Der Visionist
bevor Sie James waren … bevor Ihre Mutter Ihre Mutter war und Ihr Vater Ihr Vater … an ein anderes Leben. Können Sie das versuchen?“
Er reagierte nicht.
„Ich bin bei Ihnen, James, ich bleibe die ganze Zeit hier. Lassen Sie sich darauf ein. Versuchen Sie es. Dann erfahren wir vielleicht, warum Sie jeden Morgen diese Porträts zeichnen müssen.“
Er reagierte immer noch nicht.
„Lassen Sie sich vom Wasser treiben, in die Zeit, als Sie die Frau mit den dunklen Haaren kannten, die Frau, die Sie heute Morgen gezeichnet haben. Stellen Sie sie sich an dem Ort vor, an dem Sie sie kannten.“
Das Gesicht ihres Patienten entspannte sich kurz, dann verhärteten sich seine Züge. Sie saß nicht mehr James Ryan gegenüber, sondern einem Menschen aus seiner Vergangenheit. Der Mensch war verärgert, und er fühlte sich gerade nicht besonders wohl in seiner Haut.
„Hallo“, sagte Iris leise.
„Wer bist du?“, fragte er in aggressivem Ton.
„Ich bin eine Ärztin. Ich bin hier, um dir zu helfen. Wie heißt du?“
„Telamon.“
„Darf ich dich fragen, wie alt du bist?“
„Ich bin dreizehn“, erwiderte er stolz.
„Und wo lebst du?“
„In Delphi.“
„Welches Jahr ist es?“
„Das erste Jahr der Spiele natürlich.“
„Welcher Spiele?“
„Die Pythischen Spiele.“ Er klang überrascht darüber, wie sie das nicht wissen konnte.
Iris war schon öfter damit konfrontiert worden, eine Epoche zeitlich nicht einordnen zu können, weil ein Mensch, mit dessen Erinnerung sie Kontakt aufnahm, vor Christi Geburt gelebt hatte. Viele alte Zivilisationen benutzten keine fortlaufenden Kalender, und im antiken Griechenland konnte man das Jahr nur über die historischen Ereignisse herausfinden.
„Wer ist euer Herrscher?“
„Kleisthenes.“
Iris meinte sich zu erinnern, den Namen schon einmal gehört zu haben, und notierte ihn sich.
„Gehst du zur Schule?“
Die Frage schien ihn etwas zu verwirren. „Ich bin kein Priester. Ich gehe bei Vangelis, dem Bildhauer, in die Lehre.“
„Wie lange bist du schon sein Lehrling?“
„Seit mein Vater gestorben ist. Er war ein Baumeister und baute große Tempel. Ich sollte eigentlich bei ihm in die Lehre gehen.“ In seiner Stimme schwang Stolz.
„Was ist mit ihm passiert?“
Der Mensch ihr gegenüber war in Iris’ Gedanken schon fast zu Telamon geworden. Der Junge zuckte mit den Achseln, als wäre ihm das Thema nicht wichtig. Doch seine heisere Stimme verriet, wie sehr es ihm naheging.
„Mein Vater war so stark, keiner von seinen Männern konnte so schwere Steine heben wie er. Aber dann wurde er krank, und er konnte nicht mehr essen und wurde sehr schwach. Er ging zu den Heilern im Schlaftempel, aber sie konnten ihm nicht helfen. Meine Mutter tat, als sei alles in Ordnung, aber nachts hat sie geweint. Sie dachte, wir alle wüssten nicht, wie schlecht …“
Telamon brach ab. Iris spürte, dass der Junge um seine Fassung rang und weitersprechen würde, sobald er seine Gefühle wieder im Griff hatte. Sie wartete schweigend.
„Danach … Ein anderer Baumeister übernahm die Werkstatt meines Vaters, aber er hatte seine eigenen Lehrlinge. Für mich war kein Platz mehr, und so kam ich hierher, nach Delphi. Mein Vetter Vangelis arbeitet hier als Bildhauer, und er nahm mich in die Lehre. Ich wäre lieber bei meiner Mutter geblieben.“ Seine Stimme war leise geworden. Er flüsterte: „Ich vermisse sie.“
„Und das darf niemand wissen?“
„Nein.“
„Wa rum nicht?“
„Zenobia macht sich über mich lustig, wenn ich Heimweh bekomme. Dann sagt er wieder, ich sei zu jung für einen Lehrling und gehöre noch an die Brust meiner Mutter.“ Er schluckte heftig.
„Wer ist Zenobia?“
„Der Oberlehrling.“
„Wie viele seid ihr denn?“
„Vier, und ich bin der Jüngste. Außer natürlich Iantha.“
„Ist sie auch ein Lehrling?“
„Ein Mädchen? Nein! Sie macht Hilfsarbeiten, bringt uns Essen und Wein und hält das Herdfeuer in Gang. Sie ist Vangelis’ Tochter.“
„Dann ist sie also deine Cousine?“
„Nein, er hatte sie schon, als er in meine Familie eingeheiratethat.“ Telamons Gesichtszüge entspannten sich wieder, und um seinen Mund spielte ein Lächeln.
„Wie alt ist sie?“
„Fast genauso alt wie ich.“
„Und wie sieht sie aus?“
„Ich könnte dir ein Bild von ihr meißeln. Ich hab schon mal eins gemacht.“ Er klang traurig.
„Wirk lich?“
Er nickte. „Vangelis hatte einen Block Marmor aussortiert, mit einer dunklen
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