Der Visionist
dem Spätwerk von Matisse und zwei von Degas’ Balletttänzern in Ölpastell hingen an den Wänden. Ein schwarz-grüner Art-déco-Teppich bedeckte den Boden. Alles war unverändert. Plötzlich konnte er Maiglöckchen riechen, vermischt mit Terpentin und Leinöl – Solanges unverkennbarer Geruch aus Parfüm und Malzeug. War in ihrem Zimmer auch nichts verändert worden? Als er es das letzte Mal gesehen hatte, waren Blätter in allen möglichen Grüntönen an den Wänden angebracht gewesen. Auf den ersten Blick hatte die Anordnung willkürlich gewirkt, doch bald kam man sich vor wie in einem Dickicht irgendwo tief im Urwald.
„Bist du sicher, dass du dich nicht hinlegen willst, Dad?“, fragte die Frau, als sie Jacobs in einen Sessel bei dem antiken Spieltisch am Fenster half.
Lucian hatte sich an Solanges Geruch erinnert, an die Zeit, als sie hier gewohnt hatte, an ihr Zimmer. Nur deshalb bildete er sich ein, dass die Frau Jacobs mit Dad angeredet hatte. Vor zwanzig Jahren hatte Andre Jacobs nur eine einzige Tochter gehabt, eine Neunzehnjährige, die bei dem Diebstahl eines Matisse-Gemäldes aus seinem Laden ermordet worden war. Wenn er und seine Frau gleich nach Solanges Tod noch ein Kind bekommen hatten, dann konnte das jetzt nicht älter als neunzehn sein. Doch diese Frau war Ende zwanzig, vielleicht sogar Anfang dreißig.
Sie kam auf Lucian zu, der noch im Flur stand. „Also, worum geht es hier? Was wollen Sie von meinem Vater?“, fragte sie ohne Umschweife.
Er reichte ihr seinen Ausweis. „FBI, Art Crime Team. Special Agent Lucian Glass. Ich würde …“
Ihre Pupillen zogen sich zusammen, als sie seinen Namen hörte. „Kein Wunder, dass sich mein Vater so aufregt. Sie warenvor ein paar Wochen in der Zeitung. In den Artikeln über diese Massenhypnose-Sitzung im Musikverein im Wien … Das Reinkarnationskonzert, richtig? Es war furchtbar für ihn, als er plötzlich Ihren Namen wieder vor sich hatte … All die Erinnerungen …“
„Emeline“, rief Jacobs mit schwacher Stimme.
„Ich komme gleich wieder“, sagte sie und lief ins Wohnzimmer.
Also hatte Jacobs die Berichte gesehen. Lucian hatte sich geweigert, Fragen zu der Aufführung von Beethovens Eroica und den darauf folgenden Ereignissen zu beantworten, was die Reporter aber nicht davon abgehalten hatte, über seine Anwesenheit im Konzertsaal zu berichten. Die Spurensicherung hatte noch immer keinen Hinweis auf eine chemische Substanz gefunden, die ein drogeninduziertes Delirium ausgelöst haben könnte. War das, was in dem österreichischen Konzertsaal passiert war, ein Beweis für die Reinkarnation? Es war eine so provokante These, dass die Geschichte nicht aus den Schlagzeilen kam. In den Zeitungen, in Fernseh-Talkshows, in Radiosendungen und in Internetforen war Reinkarnation zu einem heißen Thema avanciert, das keinem langweilig wurde.
„Mein Vater war tagelang vollkommen durcheinander, nachdem er diese Artikel gelesen hatte“, sagte die Frau, als sie wieder in den Flur kam. „Er ist viel zu oft mit den Gedanken in der Vergangenheit, und als er Ihren Namen gedruckt vor sich sah, ist die Vergangenheit noch ein Stückchen näher gekommen.“ Sie schwieg einen Moment, als wäre es auch für sie keine leichte Zeit gewesen. „Ich denke, es ist besser, wenn Sie gehen, Agent Glass.“ Sie standen vielleicht einen halben Meter voneinander entfernt, aber mit ihrem Ton schuf sie eine viel größere Distanz.
Lucian konnte Andre Jacobs nicht zwingen, mit ihm zu reden. Der Mann war kein Verdächtiger.
Sie öffnete die Tür, und Lucian trat hinaus auf den Korridor.Er drehte sich um und wollte schon die Taste für den Aufzug drücken, da fiel ihm etwas ein. Als er sich umwandte, hatte sie die Tür schon fast geschlossen. Das Licht des Kronleuchters schimmerte in ihrem Haar. Nichts an ihr war vertraut, und doch hatte er das Gefühl, als würden sie einander gut kennen.
„Da ist noch eine Sache …“
Sie hielt die Tür einen Spalt offen.
„Wir brauchen Ihren … Ihren Vater, um ein Bild zu identifizieren. Der Matisse, der damals in seinem Geschäft gestohlen wurde.“
„Das wäre eine Qual für ihn“, flüsterte sie mit einer Stimme, die Lucian an Rauchfäden über einer ausgeblasenen Kerze erinnerte.
„Das ist mir bewusst.“ Es ist auch für mich eine Qual.
„Warum unbedingt er?“ Es lag nichts Aggressives in den leisen Worten, und doch zuckte er innerlich zusammen, als hätte sie ihn mit einer Tirade von Schimpfworten
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