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Der Visionist

Der Visionist

Titel: Der Visionist Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose M J
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stellvertretende Direktor des Museums in Teheran wartet auf deinen Anruf. Er wird dir alles Wissenswerte über das Kunstwerk erzählen.“
    Das Kästchen hatte die Ausmaße eines Schuhkartons und war mit braunem Leder überzogen. Es fühlte sich weich an unter Samimis Fingern. Er öffnete den Deckel mit dem doppelten Messingscharnier. Im Innern befand sich ein Seidenbeutel, in dem ein antiker Goldbecher lag. Samimi sah auf den ersten Blick, wie wunderschön und selten die Antiquität war.
    „Ich nehme doch an, dass der Becher beeindruckend genug ist, um dir den Weg zu ebnen. Zumindest sollte er wettmachen, was du an Charme nicht zu bieten hast“, ätzte Taghinia.
    Samimi presste die Lippen zusammen und legte das Artefakt wieder in das Kästchen. Er klemmte es sich unter den Arm und erhob sich.
    „Eine Sache noch.“
    Er war schon halb an der Tür. „Ja?“
    „Ich möchte, dass du morgen früh nicht ins Büro kommst, sondern direkt zur Lagerhalle gehst.“
    „Zur Lagerhalle?“ Samimis Herz klopfte so unglaublich laut; Taghinia musste es einfach hören.
    „Wir erwarten eine Lieferung. Ich möchte, dass du sie in Empfang nimmst und bezahlst.“
    „Was für eine Lieferung?“
    „Das brauchst du nicht zu wissen.“
    Samimi runzelte die Stirn. „Ich denke schon, dass ich das wissen sollte, Farid.“
    „Du solltest gar nichts denken. Und stell nicht dauernd meine Entscheidungen infrage. Dein Job ist es, meine Anweisungen zu befolgen. Wenn du mehr wissen musst, erfährst du es schon noch.“ Er spie die Worte aus, als wären es kleine Tabakkrümel, die ihm an der Zunge klebten.
    „Was soll mit der Lieferung geschehen, wenn ich sie habe?“
    „Warte, bis der Bote verschwunden ist, dann rufst du mich an. Ich sage dir dann, wohin du sie bringen sollst.“
    Das Semtex war also im selben Diplomatenkoffer ins Land geschmuggelt worden wie der antike Goldbecher. Samimi lief es kalt den Rücken hinunter, als er Taghinias Büros verließ.
    Eine hagere Frau begrüßte Samimi. Ihre blonden Haare waren kurz geschnitten, sie trug eine riesige schwarze Brille mit eckigen Gläsern. Sie reichte ihm einen Besucherausweis und stellte sich als Laura Freedman vor. Dann bat sie ihn, ihr zu folgen. Wortlos führte sie ihn durch die weiträumige Eingangshalle des Museums. Unter der hohen Decke standen überall in den Steinnischen mächtige Gestecke aus blühenden Apfelzweigen. Sie durchquerten die Mittelalter-Abteilung, bogen dann links ab und gingen durch einige Räume mit europäischen Stilmöbeln. Noch immer sagte die Frau nichts. Schließlich hielt sie vor einer Reihe von Aufzügen in der Nähe der Ausstellungshalle für die Kunst des 20. Jahrhunderts.
    Samimi bemerkte die Schätze kaum, an denen sie vorbeikamen. Er war zu aufgeregt. Warum wurde er von dieser Laura empfangen und nicht von der Kuratorin persönlich?
    Im dritten Stock verließen sie den Aufzug und wurden von einer Sekretärin durchgewinkt, die an einem antiken Schreibtisch arbeitete. Sie gingen einen Gang entlang, der mit teurem Teppich ausgelegt war. Am ersten Büro rechts stand die Tür offen.
    „Vielen Dank, Laura“, sagte Deborah Mitchell. Sie erhob sich und kam um ihren Schreibtisch herum, um Samimi zu begrüßen.
    Heute trug sie ein langärmeliges rubinrotes Kleid, das ihren dunklen Typ und ihre braunen Augen gut zur Geltung brachte. Ihre langen schwarzen Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten. Samimi reichte ihr die Hand, wobei er sich unwillkürlichvorstellte, wie die langen Strähnen offen und lose auf einem Kissen lagen. Der Gedanke musste sich ihr wohl irgendwie mitgeteilt haben, denn sie errötete. Worauf er lächelte, was ihr nur noch mehr Farbe ins Gesicht trieb. Samimi musste an Taghinia denken. Von wegen kein Charme.
    „Wie schön, Sie wieder einmal im Museum zu sehen!“, begrüßte sie ihn.
    Er nickte und stellte die Plastiktüte mit dem Kästchen auf ihren Schreibtisch.
    Sie blickte kurz zu der Tüte, dann zu ihm. „Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten? Wir haben Cappuccino oder … ach, ich erinnere mich. Sie trinken Tee, nicht wahr?“
    „Ja, gerne einen Tee.“ Er lächelte.
    „Mit Zucker, richtig?“
    „Ja, bitte.“
    Es war ein angenehm altmodisches Ritual, vor allem, als Deborah hinausging, um den Tee für ihn selbst zu holen. Er hatte gedacht, sie würde ihn von ihrer Sekretärin bringen lassen.
    Er setzte sich auf den Besucherstuhl vor ihrem modernen Schreibtisch, auf dem der Computer stand und Papiere, Kataloge, Stifte und

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