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Der Wachsmann

Der Wachsmann

Titel: Der Wachsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Rötzer
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Schlangen werden ließen. Und Salomon, dieser Erzzauberer, der hatte den gewaltigen Bau des Tempels doch nur bewältigt, indem er sich mit seinem Siegelring den Teufel Aschmodai gefügig gemacht und dessen Dämonenschar die Felsen hatte spalten und aufschichten lassen. Wer wollte da noch zweifeln, aus welcher Ecke das Unheil kam?
    Bis zum Abend ließ es Peter keine Ruhe, und im Schutz der Dämmerung und Pauls Abwesenheit kramte er das Siegel aus seinem Sack hervor. Er mußte sich vergewissern, ob es überhaupt noch da war, und er wollte es sich noch einmal ganz genau anschauen. Lange und eindringlich besah er sich die herrschaftliche Gestalt auf dem Thron. Nein, das war bestimmt kein Teufel. Ein König mußte es sein. Doch was machte ihn so sicher? Wie sah der Teufel überhaupt aus und hieß es nicht, er könne jede beliebige Gestalt annehmen? Er drehte die wächserne Scheibe und versuchte den umlaufenden Text zu lesen: LVDOWICVS DEI GRACIA ROMANORVM REX stand da. Und er glaubte sich seines dürftigen Lateins immerhin so sicher, daß er es übersetzte: Ludwig, durch Gottes Gnaden König der Römer.
    Ein König also, soviel war sicher. Aber weshalb: König der Römer? Waren diese nicht längst ausgestorben? Peter erinnerte sich des Spruchs, daß ein Zauber um so mächtiger wirke, je älter er sei. Hielt er etwa ein derartiges Zauberding in Händen? Er legte die Scheibe rasch auf den Tisch, als hätte sie ihm bereits die Hand versengt. Da mußten noch andere Worte in der Rundung stehen. Doch er konnte mit Mühe allenfalls einzelne Buchstaben erkennen, und die ergaben ihm keinen Sinn. Der Schriftzug war an dieser Stelle ziemlich zerkratzt. Absichtlich? Peter verstand nichts von Zauberei. Doch er wußte immerhin, daß Worte und Sprüche von entscheidender Bedeutung waren. Sollte es sich hierbei um Zauberworte handeln, die jemand zu tilgen versucht hatte, damit kein Unbefugter Mißbrauch damit treibe?
    Auf jeden Fall ging von diesem Ding eine Gefahr aus, die schon wiederholt zu Unheil geführt hatte. Peter steckte es rasch wieder in den Lederbeutel und danach in seinen Sack. Er mußte unbedingt mit jemandem darüber reden. Doch wem sollte er sich anvertrauen? Mit wem konnte er seine Besorgnis teilen? Durfte er die Wachsscheibe überhaupt im Haus lassen? Wenn die Kerle nun weiter danach suchten, waren dann nicht vor allem er und Paul gefährdet…?
    Am Samstag wurde der Leichnam Leonharts mit allen Ehren zu Grabe getragen. Die Frauen hatten ihn gereinigt und hergerichtet. In die leeren Höhlungen, der Augäpfel beraubt, hatten sie je ein Amulett aus Blutsteinen gelegt, die im Leben vor allen Augenleiden und den Folgen des bösen Blicks schützten. Nun sollten sie im Verein mit Baldrian die Leere füllen, um dem Gesicht ein natürliches Aussehen zu verleihen. Dahinter steckte aber auch der Glaube, daß dem Augenlicht Heilung widerfahre, damit der Leonhart im Jenseits sein luftiges Floß nicht auf Grund setze.
    Zunächst hatten sie den toten Flößer im Hause des Zunftmeisters aufgebahrt, ihn dann aber seiner alten, gebrechlichen Mutter zur Beweinung übergeben, während sich die Zunftmitglieder in die Totenwache teilten. Die Zunft spendierte auch das Leichentuch und sorgte für alle übrigen Ehren.
    In ihre besten Gewänder hatten sie sich geworfen und sich am Morgen alle vor der irdischen Wohnstatt Leonharts versammelt.
    Es hatte eine heftige Diskussion darüber gegeben, ob man dem Leonhart seine Hacke beigeben solle, denn schließlich hatte er keinen Sohn, dem er sie vererben konnte, und man erinnerte sich mit Schaudern an das grausige Eigenleben von Jakobs Floßhack. Schließlich entschloß man sich, ihm das gefährliche Werkzeug zwar mitzugeben, den Stiel aber vorsichtshalber unbrauchbar zu machen.
    Bei aller Sorgfalt, mit der man den ewigen Heimgang Leonharts ausrichtete, durfte man doch nicht die Bemühung unterlassen, seine eventuelle Rückkehr zu verhindern. So achteten die sechs kräftigen Männer, die jetzt das Totenbrett anhoben und den Leichnam darauf hinaustrugen, sorgfältig darauf, daß die Füße des Toten nach vorne gerichtet waren. Der Zug bewegte sich schweigend und ehrfurchtgebietend von den armseligen Hütten auf dem Grieß auf das Kaltenbachtor zu, dann durchs Tal zur Kirche von St. Peter. Eine Menge Neugieriger, aber auch ehrlich Betroffener, säumte die Gasse. So manchem saß zwar noch die Angst im Nacken, aber die wenigsten glaubten, daß der Leonhart selbst etwas mit dem Teufel zu schaffen gehabt

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