Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wachsmann

Der Wachsmann

Titel: Der Wachsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Rötzer
Vom Netzwerk:
hatte. Und fürchteten auch viele den Fluch, so trieb sie doch die unbezwingbare Neugier heraus, um zu sehen, ob es noch andere Zeichen gäbe und der Allmächtige seinen Zorn kundtue. Zumindest die Ansprache des Pfarrers von St. Peter wies darauf hin, als er den baldigen Beginn des Endgerichts in grauenvollen Einzelheiten ausmalte, die Ankunft des Antichrist beschwor und eindringlich zur Buße mahnte.
    Nachdem man den Leichnam des Leonhart feierlich der Erde übergeben hatte, begleiteten die Frauen die gebrochene Mutter zurück, um mit ihr in gesitteter Weise das Totenmahl zu begehen. Die männlichen Mitglieder der Zunft versammelten sich bei der Agnes, um ihrem toten Bruder den gebührenden Leichentrunk zu bescheren. Die Flößer sahen es geradezu als ihre Pflicht an, daß sie nach angemessener Trauer den Heimgang nun mit ausgelassener Freude begingen, gleichsam als Vorgriff auf die Wonnen des Paradieses. Es sollte sein wie immer, nur daß dem Leonhart sein angestammter Platz freigehalten und der erste Schluck jeder Runde auf ihn getrunken wurde.
    Es wurde ein sehr schönes Fest, dessen Friede nur einmal gefährdet schien, als Gottschalk im Suff ernste Anstalten machte, Leonharts Ehrenplatz einzunehmen und dabei auch noch unverfroren verkündete: »Unbeherrschte dürfen Ihm nicht vor die Augen treten. Wer sich mit Blut und Trug befleckt, den verabscheut Er. Und so spricht der Gerechte zum Herrn: Verbrechen klebt an ihren Händen, und ihre Rechte ist voll von Bestechung. Ich aber wasche meine Hände in Unschuld.«
    »Aber draußen und meinetwegen in der Isar!« schimpfte Agnes erbost und zog diesmal höchstpersönlich den eifernden Störenfried am Ohr quer durch die Gaststube und stieß ihn unter lebhaftem Beifall der Flößer auf die Gasse hinaus.
    Später kam der Nickel Caspar hinzu, grüßte anbiedernd nach allen Seiten und ließ sich irgendwo dazwischen nieder. Es dauerte nicht lange, und er hatte alle Aufmerksamkeit für sich, denn was er zu erzählen wußte, war wirklich ungeheuerlich.
    »Glaubt mir, unsere Zeit ist verflucht, und bald wird das Strafgericht über uns kommen, und ich kann euch sagen, wer die Schuld daran trägt. Vor mehr als hundert Jahren schon sind Ketzer aufgestanden, die die Lehre unseres Herrn in den Schmutz gezogen und sich von der allein seligmachenden Kirche abgewandt haben. Dann aber trieben sie unter dem Deckmäntelchen der Reinheit tausendfach Unzucht, Väter mit ihren Töchtern, Mütter mit ihren Buhlschaften und Nonnen mit abgefallenen Kuttenträgern. Und die Leibesfrüchte dieser Verderbtheit verbrannten sie in ihrer Mitte und buken aus der Asche mit bitterem Wasser und schmutzigem Mehl unreine Brote, die sie für den neuen und wahren Leib ihres Meisters ausgaben.«
    »Wer sind diese Kerle?« fragte Benedikt bestürzt.
    »Das will ich euch sagen«, fuhr der Nickel fort, der die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, genüßlich auskostete. »Sie nannten zwar die Patriarchen von Moses bis David Diener des Teufels, aber das taten sie nur um der Täuschung willen. Sich selbst aber nannten sie die ›Reinen‹, und nun frage ich euch: Wer in unserer Stadt dünkt sich reiner und besser als wir einfache Christenmenschen?«
    »Du meinst die… Juden?« fragte einer zögerlich.
    »Aber gewiß doch«, bestätigte Nickel triumphierend. »Sie erheben sich über uns und vollführen im Schutze ihrer Abgeschiedenheit ihre widerlichen Rituale.«
    »Das ist doch absurd«, protestierte Peter, der sich ob der Widersprüchlichkeit seinen Zweifel bewahrt hatte.
    »So, meint Ihr, Peter Barth?« gab der Nickel süffisant zurück. »Dann hört erst dies: Einst zog eine Schar ehrsamer Ritter nach Jerusalem, um in heiligem Streit das Grab Christi zurückzuerobern und es den Pilgern zu bewahren. Was ist daraus geworden? Sie wurden durch Wuchergeschäfte reich und überheblich, gaben sich widernatürlicher und sodomitischer Unzucht hin und küßten ihrem Götzen Baphomet den goldenen Arsch, bis der König von Frankreich dem Treiben Einhalt gebot, den Orden zerschlug und die Frevler verbrannte. Und wie war noch ihr Name? Ritter vom Salomonischen Tempel nannten sie sich. Da habt Ihr’s doch. Und nun zählt zwei und zwei zusammen! Die Heilige Schrift lehrt uns, daß die Hebräer zu allen Zeiten irgendwelchen heidnischen Götzen huldigten. Und wer treibt am ärgsten Wucher, ist stinkend reich und lacht insgeheim über christliche Armut?« Nickel blickte selbstgefällig und triumphierend in die Runde.
    »Er hat

Weitere Kostenlose Bücher