Der Wachsmann
Buchstabenfolge.
»Es soll heißen: SEMPER AVGVSTVS«, erklärte der Richter bereitwillig, »und bedeutet, daß der Träger dieses Titels, also der von den Kurfürsten des Reiches erwählte König, auch Anspruch auf die Kaiserwürde hat, die ihm der Papst zu Rom verleiht. Es ist eine alte, ehrwürdige Tradition, die Idee eines heiligen Reiches im Zeichen des Kreuzes.«
Peter staunte nicht schlecht. Eben noch hätte er das Ding für einen üblen Zaubergegenstand gehalten, und nun entpuppte es sich als Siegel des Königs, der eines Tages vielleicht sogar Kaiser sein würde. Ein ehrfürchtiger Schauer durchlief ihn, während seine Lippen einen Einwand formten, der eher wie ein Bedauern klang: »Aber der Papst hockt doch in Avignon, und es heißt, er könne gar nicht nach Rom zurück. Wie kann er da…?«
»Mancher ist derzeit nicht an seinem angestammten Platz«, erklärte der Richter sibyllinisch, »und vieles liegt im argen. Doch manchmal ist die Zeit der beste Richter.«
Peter war sich über den Sinn der Worte nicht ganz im klaren und befürchtete für einen Augenblick schon, der Hüter des Rechts in dieser Stadt habe sich soeben auch als ein Befürworter der alten Ordnung enttarnt. Doch der hatte damit nur seinen Unmut darüber zum Ausdruck gebracht, daß der Rabenecker noch immer den Kopf auf den Schultern trug und wieder in München umherlief, anstatt in der Hölle zu braten.
»Erklärt mir doch bitte«, fuhr Peter fort, während er seinen Teller nochmals hinstreckte, »wie kommen solch dreckige Lumpen in den Besitz des königlichen Siegels? Ist das Zufall oder fauler Zauber?«
»Weder – noch«, urteilte der Richter nachdenklich. »Es war ein ruchloser Akt der Gewalt.« Er stockte, schien sich kaum daran erinnern, geschweige denn darüber reden zu wollen.
Aber Peter blieb hartnäckig und bohrte nach: »Ihr meint ein Verbrechen?«
»Ja«, nickte der Richter. Dann lehnte er sich zurück und begann schließlich doch zu erzählen. »Es ist gerade einmal knapp zwei Jahre her, da war in der Stadt großer Tumult. Es war noch vor Eurem Bürgereid. Ich hatte zwei Aufrührer festgesetzt, die sich in schlimmer Weise in Schmähreden wider den Rat und den König ergangen und das Volk aufzuwiegeln versucht hatten. Sie sollten dafür der Stadt verwiesen und ihre Häuser niedergerissen oder für die Krone eingezogen werden, was ohnehin noch viel zu milde war für ihren Verrat. Als ich eben von der Burg kam, wo der König die Verbannung besiegelt hatte, und mit meinen Leuten dem Rathaus zustrebte, da näherte sich ein Bruder der Krays, denn um diese Sippschaft handelte es sich, mit einer Handvoll Bewaffneter ebenfalls dem Rathaus, um die Rädelsführer mit Gewalt aus der Schergenstube zu befreien. Es kam zum Kampf, wobei bloß einer von den Hunden mit dem Leben bezahlte. Ich hielt noch den Bannspruch des Königs in der Linken, während ich mit der Rechten das Schwert zog. Irgend jemand versuchte, mir im Getümmel die Urkunde zu entreißen, was ihm nicht gelang, aber später fehlte das Siegel und war auch im Staub vor dem Rathaus nicht mehr aufzufinden. Ich verwette meine Habe, daß es hier vor mir liegt.«
Dem Richter war die Erbitterung anzumerken, die ihn dabei wieder ergriff. Er ballte die Fäuste so heftig, daß er jedes Siegel darin zerkrümelt und jeden Frevler erwürgt hätte.
Er hatte das Siegel des Königs verloren. Und diese Schmach mochte weit schwerer wiegen, dachte Peter bei sich, als der Makel der Unentschlossenheit, der dem Richter damals von verschiedener Seite angehängt worden war. »War es der Rabenecker, der Euch das Siegel entriß?« fragte Peter gespannt.
»Ich kann es nicht mit Sicherheit sagen«, erklärte der Richter mit einer Geste des Bedauerns. »Aber was Ihr mir berichtet habt, spricht verteufelt dafür. Man hätte die Halunken besser gleich erschlagen sollen, denn wie Ihr seht, kriechen sie schon wieder wie die Ratten zurück in diese Stadt und treiben aufs neue ihr Unwesen.«
»Aber was wollen die Kerle jetzt noch mit diesem Siegel?«
»Es ist wie ein Schlüssel, der Euch sämtliche Türen öffnet, wie eine Zauberformel, die Euch ungeahnte Macht verleiht.« Der Richter wurde fast poetisch. »Jedem Bauern ist es heutzutage schon erlaubt, mit einem Siegel zu protzen, aber es hat über seinen Hof oder Acker hinaus keinerlei Gültigkeit. Jeder Adelige oder Ritter, jeder Abt und jede Stadt gebraucht ein eigenes Siegel, doch es besitzt lange nicht überall Gültigkeit und Glaubwürdigkeit,
Weitere Kostenlose Bücher