Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wachsmann

Der Wachsmann

Titel: Der Wachsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Rötzer
Vom Netzwerk:
die rätselhaften Verse zu durchdringen suchte, desto mehr verlor er sich in verworrenen Gedankenspielen und irrwitzigen Schlußfolgerungen. Wieder einmal schob er den ganzen Kram zusammen und warf ihn in einer Aufwallung von Zorn und Ohnmacht beinahe ins Feuer.
    Sonntags nach der Messe schlich Peter allein und mit hängenden Schultern über den Marktplatz und einer inneren Stimme folgend die Kaufingergasse entlang. Er kam sich unendlich nutzlos vor. Da war er schon die ganzen Tage über kaum mehr an der Lände seiner Arbeit nachgegangen, was Paul stillschweigend tolerierte, und dann schaffte er es nicht einmal, den Knoten zu lösen. Nichts hatte er erreicht, gar nichts. Er hatte nur das Maul zu voll genommen. Morgen würde er zum Richter gehen und eingestehen, daß er versagt hatte. Und wenn Konrad Diener sich ausschütten würde vor Lachen – recht geschah ihm. Danach würden die Dinge nach des Richters Geheiß ihren Lauf nehmen, und es ging ihn alles nichts mehr an. Peter ertappte sich dabei, wie ihm der Gedanke nicht einmal Unwohlsein bereitete. Ja, es war fast so, als würde eine Last von ihm abfallen. Morgen um diese Zeit war er frei, wieder ein Bürger wie jeder andere. Er mußte zugeben, daß ihm die Mördersuche zeitweilig sogar Spaß bereitet hatte, daß er sich beinahe lustvoll in manch geistiges Gefecht gestürzt und sich mitunter auch schlauer als andere gewähnt hatte. Aber nun?
    Er kam am Hause seines Bruders vorbei, schaute diesmal mit warmherzigeren Gefühlen hinauf und überlegte einen Augenblick, ob er vorsprechen, ein paar freundliche Worte mit Barbara wechseln und sich nach dem Befinden des Söhnchens erkundigen sollte. Ein andermal.
    Wenigstens hatte er es geschafft, sich mit seinem Bruder wieder ins Benehmen zu setzen. Es war zwar alles noch sehr neu und wackelig, aber Peter war überzeugt, daß allmählich ein festes Fundament daraus würde, auf dem sich mit den Jahren das Gebäude einer echten Freundschaft errichten ließe. Haß unter Brüdern durfte nicht sein und war in den Augen Gottes verwerflich. Peter fragte sich, ob Herzog Rudolf, als er vor wenigen Wochen vom Herrn abberufen wurde, mit seinem Bruder ausgesöhnt, oder ob er mit Haß im Herzen vor seinen ewigen Richter getreten war. Er dankte Gott, daß dieser ihm rechtzeitig die Augen geöffnet hatte. Nie wieder sollte Haß zwischen ihm und seinem Bruder stehen.
    Peter schlenderte durch das Kaufingertor und sah die Kirche des Augustinerklosters vor sich liegen. Damals hatte er dort Trost in bitterer Not erfahren. Er hielt es für eine gute Gelegenheit, heute einen Besuch des Dankes darin abzustatten; Erneut umfing ihn die friedvolle Ruhe; die hohe Halle war noch erfüllt vom Duft der Kerzen und des Weihrauchs von der Morgenmesse.
    Er ging bis zur Kapelle und hielt vor dem Josephsfenster inne. »Ein gutes Vorbild warst du mir«, sagte er halblaut und dankbar lächelnd. Er wollte schon gar nicht mehr daran denken, wie er noch Rachepläne gegen seinen neidischen Bruder geschmiedet hatte. Aber er spielte mit dem Gedanken, wie wohl die Geschichte in der Bibel stünde, wenn damals Joseph von Haß gegenüber seinen Brüdern erfüllt gewesen wäre, wenn der Jüngste aus dem Hause Jakob Rachepläne wider seine älteren Brüder geschmiedet… Peter stutzte. Dann brach es aus ihm hervor, so laut, daß die wenigen Betenden verschreckt die Köpfe hoben: »Seine älteren Brüder! Mein Gott, was bin ich nur für ein Einfaltspinsel!«
    Er verließ die Kirche so fluchtartig, als habe er den gesamten Reliquienschatz geraubt. Während er die Kaufingergasse durcheilte, fügte er bereits in Gedanken die verschiedenen Teile zu einem Ganzen. Und es paßte: »Das ist es! Der fehlende Schlüssel, endlich!« wiederholte er mehrmals in Selbstgesprächen.
    Was hatte er sich abgemüht, die Morde und ihre mysteriösen Begleitumstände, die düsteren Psalmverse und den rätselhaften Spruch miteinander in Beziehung zu setzen und die Absichten und dunklen Motive des Mörders zu ergründen. Doch nun sah er die Zusammenhänge immer klarer vor sich, und der Mörder sollte seiner gerechten Strafe nicht mehr entgehen.
    Peter eilte in seine Kammer, holte sein Schreibzeug und ließ sich an einem ruhigen Ecktisch in der Wirtsstube nieder. Er war so aufgeregt, daß er nicht einmal seinen Hunger wahrnahm und vergaß, sich ums Mittagsmahl zu kümmern. Selbst als Paul mit einem schmackhaften Eintopf und einem Krug Bier an den Tisch kam, schüttelte er nur den Kopf und ließ sich

Weitere Kostenlose Bücher