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Der Wachsmann

Der Wachsmann

Titel: Der Wachsmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Rötzer
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vornahmen, in die enge Gasse zum Rindermarkt ein. Dort hatten eine Reihe angesehener Ratsherren ihre prächtigen Behausungen, und die Vorbeifahrt sollte so etwas wie eine stille Anklage sein: Seht her, was ihr dem Jakob angetan habt! Doch von den Vornehmen zeigte sich noch keiner am Fenster oder auf der Gasse.
    Ungehindert passierten sie das innere Sendlinger Tor, das seit der Stadterweiterung seine Wachfunktion verloren hatte und nun Tag und Nacht offenstand. Nur ein paar Wagenlängen weiter ging linkerhand das Dultgässel ab. Es führte hinab zum Anger und zum Kloster der Klarissen, neben dem sich eine romanische Basilika erhob, die dem Pilgerheiligen Jakobus geweiht war. Zu seinem Festtag Ende Juli fand auf dem weiten Platz vor der Kirche seit ein paar Jahren eine große Dult statt, auf der Fernhändler edle Pelze und Tuche, kostbaren Schmuck und teure Gewürze feilboten. Dazu gesellten sich Krämer und fliegende Händler, die neben Rosenkränzen und frommen Weihegaben allerlei Tand, bunte Bänder und Kämme, Granatäpfel und süßes Naschwerk verhökerten, und Scharen von Pilgern, Gauklern und Taschendieben strömten von überall her in die Stadt. Wann immer Jakob es einrichten konnte, hatte er dem Fest seines Namenspatrons einen Besuch abgestattet und war mit kleinen Gaben zu seinen Lieben zurückgekehrt. In ein paar Tagen war es wieder soweit, doch dieses Jahr würde das fröhliche Treiben ohne ihn stattfinden, und Peter konnte nur hoffen, daß Sankt Jakob seinem Schützling auf der letzten Pilgerreise in die ewige Wohnstatt seinen Beistand gewährte.
    Das Fuhrwerk ratterte gemächlich durch die lange Gasse. Es waren schon etliche Bewohner auf den Beinen. Ladenverschläge wurden geöffnet, Frauen und Halbwüchsige schöpften Wasser am öffentlichen Galgenbrunnen, fegten Unrat zur Seite oder kippten ungeniert neuen dazu. Der Gestank vermischte sich hie und da mit dem Duft frischen Brotes. Ein paar Sauhirten trieben Stadtschweine dem Anger zu.
    Jedermann wußte, welche Fracht Peter und Perchtold aus der Stadt führten, doch kaum einer erwies die letzte Ehre. Einige bekreuzigten sich sogar verstohlen, als gelte es, ein drohendes Übel abzuwehren. Peter mochte es ihnen nicht einmal verdenken. Für sie war der Tote noch immer ein Selbstmörder, der ewiger Verdammnis anheimfiel und kein Recht auf geweihte Erde hatte.
    Die schweren Flügel des äußeren Tores gen Sendling standen schon weit offen, doch die Wächter waren noch zu verschlafen, als daß sie das Fuhrwerk behelligt hätten, zumal es ja die Stadt verließ und nichts hereinbrachte. Peter griff dennoch kurz unter sein Wams, um sich zu versichern, daß er das Begleitschreiben des Richters für alle Fälle mit sich führte. Kaum hatten sie den Burgfrieden Münchens verlassen und das freie Feld erreicht, das nun der Gerichtsbarkeit Dachaus unterstand, da begann auch schon Perchtolds große Zeit: »Was ist das?… Wo gehen die alle hin?… Was trägt die Frau da in dem Korb?… Sieh mal den großen Vogel… ist das ein Adler?«
    Peter verwandelte mit der Nüchternheit des Erwachsenen den Adler in die Krähe, die sie nun einmal war, und versuchte, auch alle anderen Fragen des wissensdurstigen, kleinen Gefährten zu beantworten, so gut er es eben vermochte. Die Fahrt würde bestimmt nicht langweilig werden.
    Auch den Pferden schien die Ausfahrt Freude zu bereiten, denn sie fielen fast von selbst in einen flotten Trab und nahmen den Anstieg zu den Sendlinger Dörfern mit einer Leichtigkeit, als hätten sie seit Tagen nur darauf gewartet, wieder das Kummet zu tragen und ihre Zugkraft unter Beweis zu stellen.
    Männer mit schwer bepackten Eseln und kräftige Bauersfrauen mit geschulterten Kraxen und vollen Körben am Arm, kamen ihnen entgegen. Sie strebten den Märkten der erwachenden Stadt zu, um Hühner und Ferkel, Eier und Käse, Rüben und Kraut, Zwiebeln und Kräuter zu verkaufen. Von der Anhöhe Untersendlings bot sich ein prächtiger Ausblick auf die Stadt München, die im Morgendunst und von ferne mit ihren stolzen Mauern und zahlreichen Türmen wie ein riesiges, verwunschenes Schloß wirkte. Kurz nach Obersendling führte die schmale Landstraße nach Wolfratshausen in einen lichten Laubwald, der gelegentlich den Blick freigab auf das enge Tal, in dem die Isar tief unten als grünes Band mit verspielten Schnörkeln dahinfloß und auf ihrem Rücken schon wieder Flöße nach München trug.
    Perchtolds lebhafte Äuglein entdeckten allerlei Kleingetier, und wenn

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