Der Waechter
Strahlen drangen durch den Schleier zu Jenny hindurch. Jenny fühlte sich, als hätte etwas Riesiges sie hochgehoben, durch die Luft geschleudert und gegen etwas Hartes geworfen. Wenn sie genauer darüber nachdachte, glaubte sie, dass genau das passiert war. Aber wirklich erinnern konnte sie sich nicht. Und jetzt war sie … ja, wo war sie eigentlich? Wer waren die Menschen um sie? Redeten die über sie? Jenny schloss wieder die Augen. Das Kissen unter ihrem Kopf fühlte sich kuschelig an. Alles fühlte sich gemütlich an, auch die Couch, auf der sie lag. Es roch nach frischem Kaffee. Gemischt mit einem blumigen Duft, der von der Wolldecke, die auf ihr lag, emporstieg.
Sie versuchte, zu sprechen. « W … Wo … w … was ... w ... wer … »
« Ganz ruhig, meine Liebe! Nicht anstrengen! In ein paar Minuten fühlst du dich wieder besser. Nur keine Eile! Du bist hier gut aufgehoben », sagte die Frau.
Ihre Stimme klang sanft und liebevoll. Jenny zweifelte keine Sekunde an der Aufrichtigkeit ihrer Worte. Ein warmer Luftstrom glitt langsam über ihren Kopf, den Hals, die Brust und den Bauch. Hier verweilte er, schwebte wie eine Wolke über ihr. Jenny schlief wieder ein. Als sie erneut aufwachte, war es still. Sie öffnete die Augen einen Spalt und sah sich um. Sie zuckte zusammen, als sie am Fußende der Couch eine Frau sitzen sah.
« Es ist alles gut! », sagte sie.
Woher kenn ich die?
Sie hatte dunkelblondes, lockiges Haar, von dem eine Strähne zur Nasenspitze hinunter glitt, während sie den Finger vor die Lippen hielt. Ihre grün-grauen Augen leuchteten hell, ihr Lächeln strahlte. Jenny kannte sie. Nur woher?
« Ach ja, jetzt weiß ich es wieder! », brabbelte sie noch halb schlafend vor sich hin.
Es dauerte ein paar Sekunden, bis das Wiedererkennen auch tatsächlich in den hintersten Teil ihrer Gehirnwindungen gedrungen war. Dann war Jenny blitzschnell wach und setzte sich auf. Mit geweiteten Augen starrte sie die Frau an, die sich erschrocken die Hand vor die Brust hielt.
« Das kann nicht sein! », flüsterte Jenny heiser. « Wie ist das möglich? »
« Ich verstehe nicht », erwiderte die Frau.
« Ich hab geträumt von Ihnen », presste Jenny hervor.
Das war die Frau aus ihrem allerersten, realen Traum. Die Frau, die die Haustür geöffnet hatte. Die Frau, der Jenny ihr Kind anvertraut hatte.
Wie kann das sein?
« Na, das sollte mal ein netter Mann zu mir sagen. » Die Frau lachte. Dann wurde sie wieder ernst und sprach ruhig weiter: « Kein Grund zur Panik! Es mag dir jetzt seltsam vorkommen, aber das wird sich ändern. Vertrau mir! »
Was soll das nun wieder bedeuten?
Jenny stand auf. Etwas zu schnell, wie sich herausstellte. Alles um sie herum drehte sich und sie plumpste zurück auf die Couch.
« Du solltest langsam machen! Du hast dir ganz schön den Kopf angehauen. » Die Frau fasste Jenny an den Arm. « Ich bin übrigens Ruth. Und ich würde mich freuen, wenn wir uns duzen könnten. » Ruth streckte Jenny die Hand entgegen.
« Ich bin Jenny. »
« Ich weiß », lächelte Ruth.
Jenny verstand überhaupt nichts mehr. Doch sie war zu müde, um darüber nachzudenken. Sie wollte nur nach Hause und schlafen. Wie spät war es eigentlich?
« Oh Gott, meine Mutter killt mich! » Jenny sprang erneut auf, schwankte.
« Setz dich hin! », tönte es vom Flur her.
Jenny glaubte, ihren Augen nicht zu trauen. Selbst wenn sie die Kraft gehabt hätte, stehen zu bleiben, hätte es sie umgehauen. Mit zitternden Beinen setzte sie sich. Im Türrahmen stand, die Hände in den Manteltaschen, Konrad.
« Du kannst den Mund jetzt wieder zumachen. Obwohl ich weiß, dass dir das schwerfällt », sagte er tonlos. « Ich hol den Wagen und fahr dich heim. »
« Äh … ich … », weiter kam sie nicht.
Konrad zog wie zur Warnung die Augenbrauen hoch. Erst als er sicher war, dass sie endgültig den Mund hielt, ging er.
Er hat einen Führerschein? Was macht er hier? Was mach ich hier?
Wie betäubt blickte Jenny Ruth an.
Die hatte den Kopf etwas gesenkt, sichtlich bemüht ein Grinsen zu verbergen. « Sieh es ihm nach. Er meint es nur gut. » Dann strich sie Jenny über die Schulter. « Ich denke, es wäre heute zu viel, dir alles zu erklären. Sicher macht sich deine Mutter Sorgen, wenn du nicht pünktlich heimkommst. Wie wäre es morgen? Nach der Schule? »
In Jennys Ohren klang noch immer alles seltsam. Ohne es zu merken, nickte sie. Sie hatte jetzt keine Kraft weiter darüber nachzudenken.
Konrad stand
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