Der Waechter
erinnern, wo genau er in ihrem Traum am Boden gelegen hatte.
Es war nur ein Traum! Er ist nicht dort, wo er im Traum war. Es war nur ein Traum!
Sie blickte in Richtung Messeplatz und da sah sie einen leichten, grünen Schimmer, der durch die Büsche drang.
Jenny eilte auf die Rückseite der Sträucher. Der Junge stand vor einem Mann, der ihn freundlich anlächelte und in einem derart beeindruckenden blau-hellvioletten, mantelartigen Dunstschleier stand, dass Jenny der Atem wegblieb. Jenny ließ ihren Rucksack von den Schultern gleiten, eilte neben den Jungen und stellte sich schützend vor ihn. Irritiert schaute er zu ihr auf. Einen Moment lang befürchtete Jenny, er würde zu weinen oder schreien beginnen, weil er sie nicht kannte.
Aber er sah sie an und sagte: « Du hast auch eine schöne Farbe, aber kannst du, was er kann? »
Mit dem Finger zeigte er auf den Mann. Dessen Dunstmantel pulsierte, als würde Leben durch ihn fließen, dehnte sich aus und zog sich zusammen, als ob er atmete. Dann schlug der Dunst Wellen, vom Kopf her bis zu den Füßen und glich einem pastellenen Wasserfall.
« Was zum Teufel ist das? », hörte Jenny sich fragen.
Das freundliche Lächeln des Mannes erstarrte. « Du kannst mich sehen? Ganz? »
« Natürlich kann ich dich sehen, du aufgeblasener Leuchtvogel! Ich bin ja nicht blind! », spuckte sie ihm entgegen.
Diesmal war es kein Traum, sondern ganz real. Und mit dieser Erkenntnis spürte Jenny, wie die Anspannung in ihr wuchs. Es war wie ein schmerzhafter Krampf, der sich von ihren Armen aus über den Leib in die Beine ausbreitete. Ein Gefühl, als dehne ihre Haut sich aus, als schließe eine meterdicke Puddingmasse sie ein, überkam sie. Vor ihren Augen erhob sich eine durchsichtige, silbrig schimmernde Mauer, in der sich das, worauf Jenny blickte, wie durch eine Lupe betrachtet, vergrößerte. Jenny sah auf das Gesicht des Mannes. Es wirkte freundlich und verständnisvoll, aber sie wusste es besser.
« Ich weiß auch ganz genau, was du vorhast», sagte sie. « Ich hab es schon gesehen, da hast du wahrscheinlich noch nicht mal daran gedacht. »
Es war kein Traum. Es war eine Vorausschau. Ein Blick in die Zukunft! Genau das, was Verrückte haben. Scheiß drauf! Dann bin ich halt verrückt!
Jede Mimik im Gesicht des Mannes verschwand. Seine Augen wurden groß, verunsichert blickte er sie an.
Aus der Ferne drang die Stimme des Jungen zu Jenny: « Wow, das ist so was von cool », jubelte er, während er sie staunend musterte.
Jenny legte den Arm um ihn und schob ihn hinter sich in ihren wabernden Schutz. Sie spürte, wie es an der Stelle drückte, an der sie den Jungen hineinschob und wie eine schnalzende Vibration entstand, als der Schutz sich wieder um sie beide schloss.
« Bist du die eine? », fragte der Mann.
« Was faselst du da? »
Zu spät kapierte Jenny, dass es ihm gelungen war, sie abzulenken und sich ihr Schutzschild verkleinert hatte. Dann ging alles so schnell, dass sie keine Zeit mehr hatte, etwas zu empfinden. Der Arm des Mannes erhob sich. Ein kleiner Teil des Dunstmantels formierte sich zu einem pfeilartigen Blitz. Jenny sah es und spürte im gleichen Moment eine Erschütterung hinter sich, der ihren Cocon in Schwingung brachte. Aus den Augenwinkeln sah sie einen Schatten vom Baum springen und neben ihr aufkommen. Doch ehe sie danach schauen konnte, ließ ein kurzes Zucken des Mannes vor ihr die furchteinflößende Formation seines Dunstmantels auf sie zurasen. Neben ihr schoss ein gleichartiger blauer Blitz hervor. Ihr Schutzschild wackelte, angestoßen von seiner Geschwindigkeit. Dann war es als explodiere eine Sonne vor ihren Augen, so hell und bunt, dass es schmerzte. Eine kanonenschlagartige Erschütterung riss Jenny in die Luft. Den Aufprall spürte sie nicht mehr. Sie spürte überhaupt nichts mehr.
« Du solltest doch auf sie aufpassen! », flüsterte eine Männerstimme aufgebracht.
« Ich habe auf Sie aufgepasst », antwortete eine andere ruhig.
« Besser aufpassen! »
« Sie hat mich abgehängt. Ich hab mein Bestes gegeben. Hätte ich das nicht getan, wäre sie jetzt ... »
« Pst! », unterbrach ihn eine Frau. « Sie wird wach. »
Schlagartig wurde es still.
Am leisen Rascheln von Kleidung hörte Jenny, dass jemanden auf sie zu schlich. Sie bekam die Augen nicht gleich auf, ihr Kopf schmerzte. Endlich sah sie durch einen kleinen Schlitz zwischen den Lidern einen milchigen Schleier vor Augen. In der Nähe musste eine Lampe stehen. Ihre
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