Der Waechter

Stille.
    Danach fand sie, dass sich die Frage ziemlich dämlich angehört hatte, aber für die Leute, die am Tisch saßen, war es scheinbar das Natürlichste der Welt, sie zu beantworten.
    « Ich bin Heilerin », sagte Ruth, nachdem Jennys Blick an ihr haften geblieben war. « Ich habe gestern daran gearbeitet, dass du dich schnell wieder erholst. »
    « Cynthia, Benedict und ich sind Krieger. Wir waren gestern auch da und haben unserem lieben Sammler-Freund den Hintern versohlt. » Arthurs Stimme dröhnte.
    « Der Mann im Park war ein Sammler? Was ist ein Sammler? »
    « Treiber und Sammler sind Schattenträger, die den Assugos ihre Opfer zuspielen. Sammler locken sie auf mystische Weise an, während Treiber sie ihnen direkt in die Arme treiben. Treiber verbreiten Angst und Schrecken dazu, aber Sammler sind richtig hinterhältige Typen. Sie können dir den besten Freund vorgaukeln, bis du in die Falle tappst. Zum Dank dafür kriegen sie von den Saugern ein bisschen was von der geklauten Kraft ab. »
    Arthur war die Abscheu anzusehen. Er rümpfte die Nase als würde es ekelhaft stinken.
    Jenny hatte gesehen, wie ein Sauger vorging. In ihrer Vision von Justin war er am Boden gelegen und wurde seines Fragments beraubt. Sie schüttelte sich.
    « Warum gibt er sich damit zufrieden? Ich meine, wieso saugt er die Opfer nicht selbst aus? Braucht er es so sehr der Diener zu sein? », wollte Jenny wissen.
    Samuel lachte über ihre Ausdrucksweise. « Ja, wieso sich mit einem Happen abgeben, wenn man den ganzen Braten haben kann? » Mit einem schiefen Blick sah er zu Arthur. Dann wandte er sich wieder Jenny zu. « Es ist so, dass zum Saugen genauso eine besondere Fähigkeit benötigt wird wie zum Treiben, Sammeln, Heilen, Wachen, Sehen und so weiter. Ein Sauger, ein Assugo, besitzt die Fähigkeit, einem Körper das Energiefragment zu entziehen und sich einzuverleiben. Es bedarf großer Kraft und Ausdauer und natürlich der Technik. Nicht jeder Humānimus wird mit den erheblichen Energieschwankungen fertig. Indem der Sauger sein Fragment mit dem fremden vereint, gewinnt er auch an Kräften und Fähigkeiten. Das ist die große Gefahr, die von ihnen ausgeht. Auch auf unserer Seite gibt es Sauger. Nur nutzen sie ihre Fähigkeit im Sinne des Guten. Da sie sich die Energie nicht einverleiben, sind sie außerdem wesentlich schwächer. Es kann unter gewissen Umständen nützlich sein, sein Fragment los zu werden, weißt du? » Jenny wusste nicht, aber sie würde ein anderes Mal nachhaken.
    « Was war das für eine Vision, in der du Ruth und das Haus gesehen hast? » Konrad sprach. Das war erstaunlich.
    Erst wusste Jenny nicht, wovon er redete. Als es ihr wieder einfiel, entschloss sie sich, nicht zu ausführlich zu werden. Sie spürte noch immer die Angst und Düsternis, sobald sie versuchte sich zu erinnern. Selbst wenn die Vision wahr werden sollte, wären es noch Jahre bis dahin. Und ganz abgesehen davon wusste sie noch immer nicht, ob sie allen, die am Tisch saßen, trauen konnte. Samuel selbst hatte gesagt, dass sie vorsichtig im Umgang mit anderen Seelenträgern sein müsse.
    « Ich habe nur das Haus gesehen und dass Ruth die Tür öffnete. »
    « Das war alles? », hakte Konrad nach. « Das war aber eine kurze Vision. » Es schwang ein Hauch Ironie mit.
    « Naja, ich bin in der Vision den ganzen Weg von der Stadt bis hierher gelaufen. » Jenny spielte mit ihrem Besteck und schob es links und rechts unter den Tellerrand. « Es war ziemlich düster und unheimlich, irgendwie. »
    Arthur ließ seinen Löffel auf den Teller fallen: « Und das heißt? Etwas genauer bitte! » Seine Augen hatten einen ernsten Ausdruck angenommen.
    « Also alle Häuser waren wie ausgestorben und Menschen habe ich überhaupt keine gesehen. Auch euer Haus war abgeschottet mit einem hohen Zaun. »
    Sofort herrschte Ruhe am Tisch.
    « Weiter! », drängte Cynthia.
    « Nichts weiter », log Jenny.
    Cynthia zog die Augenbraue hoch: « Ach ja? Wieso denkst du dann an ein silberfarbenes Auto und einen blauen Blitz? »
    Wie bitte? Raus aus meinem Kopf!
    « Cynthia! » Ruth sah Cynthia tadelnd an, doch das beeindruckte die nicht.
    Jenny begann zu stottern: « Äh, ja, ein Auto, es rast auf mich zu und …, dann kommt ein blauer Blitz hinter mir vorgeschossen, und dann bin ich aufgewacht, äh, wieder zu mir gekommen, wie soll ich sagen? »
    Es war Jenny unheimlich, was Cynthia konnte. Jenny konzentrierte sich auf die Kartoffel, die gerade den Weg in ihren Magen