Der Waechter
gekommen. Samuel hatte ihr erklärt, dass es an dem Zustand der Entspannung lag, in der ihre Energie sich entfalten konnte. Er hatte fest daran geglaubt, dass Jenny eines Tages in der Lage sein würde, Visionen auf Anhieb zu bekommen. Durch einen Namen, die Berührung eines Gegenstandes oder die Begehung eines Ortes. Samuel, Ruth, wieder liefen Jennys Tränen. Sie vermisste sie alle so sehr. Wieso war sie nur so leicht zu vertreiben? Was machte sie so empfindlich? Cynthia hatte nur Angst gehabt. War sich der Konsequenzen bewusst gewesen, die Jennys Lauscherei haben konnte. Sie alle hatten gesagt, dass es nicht leicht werden würde, dass es sogar besonders schwer werden würde. Und was hatte sie getan? Bei den ersten Schwierigkeiten hatte sie alles hingeworfen. Aber was war mit dem Bund? Wie kam er dazu, sie einfach so ziehen zu lassen? Sie hielten sie doch für die Erfüllung der Prophezeiung. Wenn sie nur an die Begegnung mit Aaron dachte. Den Moment, in dem sie sich umarmten. Jenny hatte gespürt, dass sie recht hatten. Sie war die Auserwählte. Für diesen Moment war es vollkommen klar gewesen. Aarons Energie hatte ihr die Quelle gezeigt und kaum hatte er sie losgelassen, kamen auch wieder die Zweifel zurück.
Abrupt setzte sie sich im Bett auf. Wieso hatte sie eigentlich wieder eine Vision gehabt? Sie hatte sie doch abgestellt. Irgendwie jedenfalls.
Ach du Scheiße!
Es lag an dem Versuch, mit ihrem Fragment zu Konrad zu gelangen. Damit hatte sie ihre Energie aktiviert. Genau das, was sie befürchtet hatte, war eingetreten. Nur mit der Seelenwanderung hatte es nicht geklappt.
Toll gemacht, Jenny! Ganz toll!
Keinesfalls würde sie das Ganze nochmal ohne Hilfe von erfahrenen Humānimi durchstehen. Jenny brach erneut in Tränen aus. Zunächst waren es selbstmitleidige Tränen, verwandelten sich dann aber in Tränen der Wut, der Wut auf sich selbst. Sie hatte nicht widerstehen können, ihre Fähigkeiten einzusetzen und nun begann alles von Neuem. Es war zu verlockend gewesen. Sie war ein Dummkopf! Nach einer Weile fiel sie erschöpft zurück in die Kissen und eine dumpfe Schwere, wie nach einem verheerenden Orkan, überkam sie. Schließlich fasste sie einen Entschluss: Gleich am Montag würde sie nach der Schule das Haus des Weißen Bundes aufsuchen und um Hilfe bitten. Sie ließen sie ziehen und sie würden sie auch wieder empfangen. Davon war sie überzeugt. Und wenn sie ausgereift war, konnte sie wieder ihre eigenen Wege gehen, ohne Bund. Und Konrad? Er hatte sich willenlos dem Wunsch des Rates gebeugt.
Was für ein Waschlappen!
Was konnte es Schmerzhafteres für ihn geben, als dass Jenny zum Bund zurückkehrte und ihn mit Ignoranz strafte?
Genau das mach ich!
Er hatte sie verletzt und nun würde sie ihn verletzen.
Jenny saß im Gummibärchen-Schlafanzug auf der Couch im Wohnzimmer, ihre Füße auf den Tisch gelegt. Ihre Mutter war bis morgens in einer Kneipe in der Stadt bedienen. Natascha lag schlafend im Bett und Simone bereitete in der Küche Popcorn zu. Sie und Jenny waren für einen Krimi im Wohnzimmer verabredet. Es liefen gerade noch die Nachrichten, als Jenny müde gähnte und für einen kleinen Moment die Augen schloss. Leicht begann sie, wegzudämmern. Da spürte sie, kaum wahrnehmbar, ein leichtes, dumpfes Drücken im Magen. Bunte Farbschleier wehten sanft vor ihrem geistigen Auge vorüber. Plötzlich wurde ihr kalt, ein eisiger Wind wehte ihr um die Ohren und sie fröstelte. Simone musste das Fenster gekippt haben. Irritiert öffnete Jenny die Augen. Zunächst sah sie nur Dunkelheit. Dann das schleierhafte Licht von Straßenlaternen. Der Wind fuhr durch dichte Äste über ihr und wenige verdorrte Blätter, die noch daran hafteten, wedelten starr vor sich hin. Erschrocken richtete sie sich auf.
Mist! Wo bin ich denn jetzt schon wieder gelandet?
Unter ihr knirschte steifgefrorenes Laub, knackten abgestorbene Äste. Sie war in einem Gebüsch oder am Rand eines Waldes. Langsam richtete sie sich auf, schaute auf eine Reihe Einfamilienhäuser ihr gegenüber.
Wo zum Teufel bin ich?
Ein Blick an sich hinunter zeigte ihr, dass sie noch immer ihren Gummibären-Schlafanzug trug. Sie war auf einem verwilderten Baugrundstück, inmitten einer Wohngegend. Am Gehsteig waren Autos geparkt. In den meisten Häusern brannte Licht. Über ein niederes Gartenmäuerchen hinweg konnte sie in einen Wintergarten schauen. Darin lief der Fernseher und Jenny glaubte ansatzweise zu erkennen, dass es die Nachrichten
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