Der Waechter
schluckte. «Ich werde dir das alles erklären. Es ist nicht so, wie du denkst.»
Mit der Hand strich er ihr liebevoll das Haar zurück und streichelte ihr anschließend damit über die Wange, wischte ihr die Tränen weg. Dann kam er ihrem Gesicht näher, legte seine Stirn an ihre und rieb seine Nase an ihrer.
«Du bist ja eiskalt!», stellte er besorgt fest.
Sofort knöpfte er seinen Mantel auf, breitete ihn aus, nahm Jenny fest in die Arme und schloss den Mantel hinter ihrem Rücken mit seinen Händen.
«Ich werde dir das alles in Ruhe erklären. Aber du musst sofort zurück. Es ist zu gefährlich hier und zu anstrengend. Du bist schon ganz kalt.»
Jenny stand noch immer reglos, wie betäubt, da. Sie konnte nicht fassen, was sie gerade gesehen hatte. Und jetzt hielt er sie im Arm? Sie atmete seinen vertrauten Duft ein. Doch anders als sonst löste er in ihr eine Alarmsirene aus und schlagartig fand sie ihre Sprache wieder. Mit einem Ruck befreite sie sich aus seiner Umarmung und stieß ihn von sich.
«Fass mich nicht an, du Stinktier!», schrie sie.
Dann hob sie ermahnend den Zeigefinger und alles Gift, das sich durch die maßlose Enttäuschung und den grenzenlosen Schmerz der letzten Tage in ihr angesammelt hatte, verzerrte ihr Gesicht zu einer wütenden Fratze.
«Und wag es ja nie wieder, nie wieder, mich anzulangen!», fauchte sie wie eine angeschossene Löwin.
Dann atmete sie tief ein, richtete sich zu ihrer vollen Größe auf, straffte die Schultern und schloss die Augen. Ein kurzer Schwindel, kombiniert mit Übelkeit und Farbschleier folgten und das Nächste, was Jenny sah, als sie die Augen öffnete, war Simone, wie sie mit einer Schüssel Popcorn ins Wohnzimmer kam und sich auf die andere Couch fallen ließ.
«Von mir aus kann’s losgehen», sagte sie.
Jenny schaute auf den Fernseher. Es liefen noch immer die Nachrichten und sie hatte das Gefühl, dass das Ende des Satzes gesprochen wurde, zu dessen Anfang sie weggedöst war. Dabei war sie mindestens gefühlte zehn Minuten weg gewesen. An ihrer Hand klebte noch immer das Harz des Baumstamms, in den sie sich gekrallt hatte. Ihre Wangen waren feucht und ihre Nase lief. Jenny wollte sich aufrichten, fiel aber sofort wieder zurück in die Couchlehne. Sie war erschöpft und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Alles um sie herum lief wie durch Rauchschwaden vor ihr ab. Selbst zum Weinen fehlte ihr die Kraft. Sie fror schrecklich. Am besten sie schlief heute Nacht an Ort und Stelle. Fest wickelte sie sich in die Wolldecke und legte sich mit dem Gesicht zur Couchlehne gewandt hin.
«Was ‚n mit dir los?», hörte sie Simone wie durch ein langes Papprohr fragen.
Im Laufe der Nacht war Jenny irgendwie in ihrem Bett gelandet. Wahrscheinlich hatte ihre Mutter sie nach der Heimkehr, halb schlafend von der Couch ins Bett gescheucht, denn beim Klingeln des Weckers, wachte Jenny mit brummendem Kopf und schmerzendem Nacken in ihrem eigenen Bett auf. Ihr erster Gedanke, noch ehe sie richtig das Weckzeichen wahrnahm, galt Konrad und Stefanie. Es gab keine Worte, um den Schmerz zu beschreiben, der ihr in die Brust fuhr. Gleich nach den Zweifeln an der Wahrhaftigkeit des Erlebten, kam der unbändige Zorn. Es war schon schlimm genug gewesen, dass Konrad nach dem Kuss kein Interesse mehr an ihr gezeigt hatte. Aber dass er plötzlich Stefanie aus dem Hut zauberte, war das Allerletzte.
Was für ein Schwein!
Die Tränen, die Jenny nun vergoss, entsprangen purer Wut und Verachtung. Auch Wut und Verachtung konnten schmerzen. So sehr, dass man glaubte, wie ein Glas zu zerspringen. Stefanie hatte alles gehabt. Und jetzt auch Konrad. Da packte Jenny ein Geistesblitz, eine letzte Hoffnung, dass sich doch noch alles als großer Irrtum herausstellen würde: was, wenn Stefanie ein schutzbedürftiger Humānimus war? Das würde einiges erklären, wenn auch nicht die Tatsache, dass Konrad Jenny wie eine heiße Kartoffel hatte fallen lassen. Jenny wusste, dass er ein Wächter war und es wäre kein Problem gewesen, wenn er ihr von seiner neuen Aufgabe erzählt hätte. Zumal sie es sowieso früher oder später merken würde, dass Stefanie ein Animusfragment in sich trug. Und wenn Stefanie tatsächlich eine Seelenträgerin war? Gehörte es zu Konrads Aufgabe als Wächter, sich seinen Schützlingen an den Hals zu werfen? Hatte er sie, Jenny, deshalb geküsst? Und hätte er das Gleiche mit Stefanie getan, wäre sie nicht da gewesen?
Was für ein mieser Typ!
Die Wut, die Jenny
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