Der Waechter
Bundes zu unternehmen, verwarf ihn aber gleich wieder. Sie würde dafür ihre Kräfte in Anspruch nehmen müssen und somit ihr ganzes Vorhaben zunichtemachen. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als abzuwarten.
Am nächsten Tag sprach Jenny nach stundenlangem Ringen in der Pause Eva an.
«Wie geht es Konrad?», fragte sie beiläufig.
«Gut. Wieso?» Evas Gesichtsausdruck blieb unverändert.
«Ich dachte, er wäre vielleicht krank, weil er nicht da ist.»
«Nö, ihm geht’s gut. Die Schule war für ihn ja nur ein Wächterprojekt», sagte Eva kalt.
Genauso gut hätte sie Jenny ihre Faust in den Magen rammen können. Jenny wurde es schlagartig schlecht. Sollte das bedeuten, dass Konrad überhaupt nicht mehr kam? Der Rat hatte es also wahr gemacht; ihn als ihren Wächter abgesetzt und zurück in den Norden geschickt? Tränen schossen Jenny in die Augen. Überstürzt lief sie zurück in ihr Klassenzimmer, packte ihre Sachen und verließ die Schule. Sie wollte sich in ihrem Zimmer einsperren und weinen. Immer wieder kehrten ihre Gedanken zum Moment des Kusses zurück.
Wie kann er das nur so einfach vergessen?
Sie hatte doch gespürt, wie ernst es ihm war. Konnte sie sich so getäuscht haben? Warum tat er überhaupt, was der Bund sagte, wenn er sie doch liebte?
Jenny weinte bis spät in die Nacht. Wie von Wellen gepeitscht, schwankte sie zwischen Selbstmitleid und Trauer und der Hoffnung, dass sich alles als Irrtum herausstellen und Konrad plötzlich vor ihrem Bett stehen würde. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, sich zu konzentrieren und zu ihm zu wünschen. Dann verwarf sie ihn wieder. Einmal ihre Kräfte aktiviert, würde sie wieder quälende Visionen haben, Schwäche und Schmerz spüren. Doch wenn sie sich weiter ruhig verhielt und ihre Energie bei sich behielt, brauchte sie keine Überfälle zu fürchten. Bisher war diese Rechnung aufgegangen. Doch gegen zwei Uhr morgens, als die Erschöpfung über sie kam und die Trauer sie überwältigt hatte, gab Jenny ihrer tiefsten Sehnsucht nach. Sie stieg aus dem warmen Bett, wickelte sich in eine Wolldecke und machte es sich in ihrem Kuschelsessel bequem. Dann atmete sie tief ein und aus und bat ihr Innerstes, ihr den Weg zu Konrad zu öffnen. Doch es geschah nichts. Jenny versuchte es über eine halbe Stunde immer wieder. Dann gab sie auf, ging ins Bett und weinte sich in den Schlaf.
Auch am nächsten Tag blieb Konrad dem Unterricht fern. Jenny war schrecklich müde und hatte einen Brummschädel von der ganzen Heulerei. Dennoch fühlte sie sich alles in allem besser und der Gedanke, sich von Konrad zu lösen und ihn aufzugeben, nahm langsam Gestalt an. Wie sie es drehte und wendete: Er konnte sie vergessen, also würde sie es auch können. Es war nicht ihr erster Liebeskummer und sie würde auch diesen überstehen.
Aber dieser Kuss! Dieser unbeschreiblich, göttliche Kuss!
Eva hatte gesagt, es ginge Konrad gut. Dann würde sie darauf hinarbeiten, dass es ihr ebenso gut ging.
Ganz genau!
Jenny ist aufgeregt, fast panisch. Konrad hält ihre Hände. Er ist für sie da, bedingungslos. So wie sie für ihn. Seine Blicke dringen in sie ein. Er sieht, was sie sieht, weiß, was sie weiß. Sie sind eins. Gleich ist der Moment gekommen. Der Moment, von dem sie nicht wissen, wie er enden wird. Sie spürt seine Lippen auf ihren, ohne dass er sich ihr nähert.
Weinend wachte Jenny auf. Sie hatte Konrad so deutlich gespürt, seine Hände, seine wärmenden, tiefen Blicke. War es eine ihrer Visionen gewesen? Oder nur ein Traum? Es musste eine Vision gewesen sein, denn sie hatte die Szene schon einmal gesehen und eine derart exakte Wiederholung von Träumen gab es bestimmt nicht. Träume ließen sich manipulieren, winzige Details änderten sich, selbst bei ähnlich wiederkehrenden Träumen. Sie hatte es schon mehrfach erprobt. Sie würde Konrad noch einmal nah sein. Wo auch immer er jetzt war, warum auch immer er sie nicht kontaktierte. Sie konnte ihrer Vision trauen. Würde eines Tages wieder mit ihm vereint sein. Sie verdrängte, dass sie ebenso den Abschied gespürt hatte. In der Vision hatte sie Angst gehabt, Konrad erneut zu verlieren. Sie versuchte sich zu erinnern, wo genau sie gewesen waren. Aber es war ihr unmöglich, sich genauer umzusehen. Doch sie tröstete sich: Egal was passieren würde, warum auch immer sie in solche Panik geraten würde, sie würde Konrad wieder haben und sei es auch nur für einen kurzen Moment. Jennys Visionen waren bisher immer im Schlaf
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