Der waghalsige Reisende: Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben (German Edition)
behandelt und bezahlt«. Danach rechnet Knigge der Leserschaft vor, warum dennoch keineswegs »alle Buchhändler, die nur irgend einen Verlag hätten«, deshalb auch reich seien: »Wenn man in Deutschland vierundzwanzig Millionen Einwohner annimmt und dann rechnet, dass jedes Buch tausendmal abgedruckt würde, so beträgt das auf 24 000 Menschen nur ein Exemplar – und welches Buch könnte so schlecht sein, dass nicht unter 24 000 Leuten einer Lust bekäme, es zu kaufen? Allein man wird bald andrer Meinung, wenn man die Schuldbücher der Herrn Buchhändler durchsieht; wenn man erfährt, dass sie von ihren Amtsbrüdern nicht mit Gelde, sondern mit Makulatur und Ladenhütern, von andern Käufern aber oft mit Vertröstungen bezahlt werden, dass man von der Summe jener 24 000 beinahe den ganzen Bauernstand abrechnen muss, und dass die häufigen Leihbibliotheken und Nachdruckfabriken ihnen beträchtlichen Schaden zufügen.«
Was den Bauernstand betraf, hatte Knigge unrecht, und zwar sehr. 1788, im gleichen Jahr, in dem Über den Umgang mit Menschen erschien, publizierte Göschen von Rudolph Zacharias Becker das Noth- und Hülfsbüchlein für Bauersleute, welches lehret, wie man vergnügt leben, mit Ehren reich werden und sich und Andern in allerhand Nothfällen helfen könne. Das in seinem Titel so vielversprechende Buch hielt dieses Versprechen, jedenfalls in finanzieller Hinsicht: Es wurde zum größten Subskriptionserfolg der deutschen Aufklärung, und der Gesamtabsatz wird auf eine halbe Million Exemplare geschätzt, manche sprechen gar von einer Million.
Dabei lag es erst drei Jahrzehnte zurück, dass der Bauer literaturfähig geworden war, und zwar als Objekt der Darstellung, als Autor und als Adressat. 1756 war mit Der Gelehrte Bauer von Johann Ludewig die selbst erzählte Bildungsgeschichte eines Bauernkindes aus Sachsen als »Exempel zu nützlicher Nachfolge« erschienen. Ob Seume das Buch gekannt hat? Jedenfalls sollte er für Göschen, der wie alle Verleger jeden Erfolg zu wiederholen suchte, ein Buch für die Landbevölkerung schreiben. Seume schrieb, aber Göschen veröffentlichte nicht – nicht zu Seumes Lebzeiten. Das Kurze Pflichten- und Sittenbuch für Landleute erschien Göschen zu schwer für das Zielpublikum. Auf dem Stich »Lesender Bauer« von Chodowiecki sieht man, warum. Er zeigt die Vorstellung, die man sich in den Städten vom Buchstabieren auf dem Land machte: Mit vor Anstrengung hervorquellender Halsschlagader und viehisch aufgerissenem Mund versucht der Bauer zu entziffern, was in der Broschüre in seiner Hand geschrieben steht.
Das Lesen auf dem Land und lange auch das in den Städten richtete sich – so die einfachen Leute überhaupt alphabetisiert waren – bis ins erste Drittel des 18.Jahrhunderts hauptsächlich auf Erbauungsbücher und die Bibel. Die Gebildeten lasen theologische, juristische, philosophische und medizinische Neuerscheinungen in Latein und die antiken Klassiker in Latein und Griechisch. Der Kanon stand seit Jahrhunderten fest und war so abgeschlossen, dass der heute unantastbare Shakespeare Fürsprecher wie Goethe und Übersetzer wie Wieland und die Romantiker brauchte, um beim Publikum durchgesetzt zu werden. Die traditionelle Lektürepraxis war intensiv, nicht extensiv. Das Gelesene verwandelte sich in Gemerktes, das Buch in eine Gedächtnisstütze für das, was man im Kopf hatte. Das Publikum schließlich bestand aus Subskribenten, die den Autoren oft persönlich und immer mit Namen und Adressen bekannt waren.
Um 1800 hatte sich all das völlig verändert. Lag um 1740 das Verhältnis zwischen lateinischen und deutschen Titeln in den Leipziger Messekatalogen bei 38 zu 62, erschienen um die Jahrhundertwende 96 von hundert Büchern auf Deutsch. Die Alphabetisierungsrate war deutlich gestiegen, und da viele der nachwachsenden Neuleser mehr als nur den Namen schreiben konnten, wuchs auch das potenzielle Publikum. Die Einführung der eisernen Druckpresse in der zweiten Hälfte der 60er-Jahre, die durch geringere Abnutzung der Druckstöcke höhere Auflagen ermöglichte, verbilligte die Produktion und trug zur Verwandlung des potenziellen Publikums in ein wirkliches bei. Der gedruckte Buchstabe wurde zur Ware und brachte in vielfältigsten Formen, vom billigen Heftchen bis zum prunkenden Folianten, neue Ideen unter die Leute. Die unmittelbaren persönlichen Beziehungen zwischen einzelnen Autoren und ihren Subskribenten waren dem über den Markt vermittelten
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