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Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman

Titel: Der wahrhaftige Volkskontrolleur - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Kurkow
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nicht, und so beugte er sich in ihre Richtung und bat sie, ihre Frage noch einmal zu wiederholen. Sie beugte sich vor, um sie zu wiederholen, und so kamen sich ihre Lippen nahe und jeder spürte den warmen Atem des anderen. Das dauerte vielleicht eine Minute oder zwei, und beide hielten den Atem an und sahen einander an, aber keiner konnte sich dazu entschließen, sich auch nur einen Zentimeter weiter nach vorne zu neigen. Und dann sprach Banow, als er einen fast unmerklichen Moment der Stille zwischen den Glockenschlägen fand. Er sprach so zärtlich, wie man sonst ganz andere Worte ausspricht: „Das ist die Turmuhr … Sie schlägt Mitternacht.“
    Klara wich ein wenig zurück, aber nicht, weil sie zur Seite rücken wollte, sondern wegen eines unangenehmen Gefühls im gebeugten Rücken. Banow richtete sich auf, ohne den Blick von dieser schönen Frau abzuwenden. Und die Turmuhr tönte, sie schlug, und die beiden auf dem Schuldach lauschten ihrem Glockenschlag und sogen diesen erstaunlich frischen Abend in sich auf, erfreuten sich am Licht in den wenigen erleuchteten Fenstern, hinter denen sich Menschen befanden, die sie nicht kannten, gute und ehrliche Menschen, die sich auf den Schlaf vorbereiteten.
    Den beiden aber war noch ein halber Teekessel mit süßem Tee und der ganze Sternenhimmel geblieben, der so schön war, als wäre er für eine Ausstellung der Errungenschaften der Volkswirtschaft speziell angefertigt.
    Die Stadt schlief ein, und die Musik der Automotoren war nirgends mehr zu hören. Die Fenster wurden dunkel. Von unten drang das Rauschen der Blätter herauf.

    *** Volkskommissariat für Bildungswesen

Kapitel 12
    Der Zug nach Karaganda fuhr auf Bahnsteig drei ein.
    Es fiel Schnee, der gleich wieder schmolz und sich in Wasserlacken verwandelte, die das Laternenlicht widerspiegelten, matt und gelblich wie Butter aus Wologda.
    „Wo ist denn hier der Waggon Nummer drei?“, fragte ein kleiner Mann im Wintermantel und mit Persianermütze den Schaffner, der gerade aus dem Zug gestiegen war.
    „Ganz hinten!“, antwortete dieser und zeigte mit einer Bewegung seines unrasierten Kinns die Richtung an.
    Der Mann nahm seinen Koffer sowie einen in Stoff gehüllten kegelförmigen Gegenstand und eilte zum gesuchten Waggon.
    Weiße Schneeflocken schwebten wie Fliegen vor seinen Augen, sodass der Mann im Gehen den Kopf schüttelte, dermaßen lebendig und zudringlich schienen sie.
    „Ist das Nummer drei?“ Er blieb neben einer attraktiven Schaffnerin in einem grünen Uniformmantel stehen.
    „Nummer drei“, nickte sie, nachdem sie den Passagier gemustert hatte.
    Der Mann holte seine Fahrkarte aus der Manteltasche.
    „Steigen Sie ein!“, sagte die Schaffnerin.
    Das Zweierabteil der ersten Klasse war sauber und gemütlich.
    Der Mann stellte den Kegel auf den Tisch und nachdem er eine lederne Toilettetasche aus dem Koffer genommen hatte, hob er diesen auf die Gepäcksablage unter der Decke.
    Im Inneren des Kegels begann es zu rascheln.
    Der Mann hatte sich auf seinen Platz gesetzt und entspannte sich, er streckte die Beine aus und stützte sich mit den Händen auf die weiche, nachgiebige Polsterung seiner Lederbank. Er seufzte glücklich.
    „Der Zug ‚Moskau–Karaganda‘ fährt in fünf Minuten ab!“, ertönte die Bahnhofsdurchsage.
    Der Mann zog den Mantel aus und hängte ihn auf einen Kleiderbügel; seine Mütze legte er auf die schmale Ablage über seinem Schlafplatz.
    Das Türschloss klickte und eine junge Frau mit einer kleinen Reisetasche trat ins Abteil, auf dem Kopf hatte sie ein warmes Orenburger Tuch.
    „Guten Tag!“, sagte sie, indem sie das Gesicht ihres Nachbarn musterte.
    Der Mann grüßte. Dann erhob er sich.
    „Mark Iwanow, Künstler!“, sagte er und nahm der Frau die Reisetasche ab.
    „Klawa Fjodorowa, Chemotechnikerin“, stellte sich die Frau vor. „Haben Sie gesehen, wer im Nachbarabteil sitzt? Gehören Sie zusammen?“
    „Wer ist dort?“ Der Mann bekundete vorsichtig sein Interesse.
    „Na, wie heißt er doch gleich … ich hab’s gleich! Ach ja, Walentinow!“
    „Tatsächlich?!“, sagte ihr Kupee-Nachbar. „Nein, wir fahren nicht gemeinsam … Ich arbeite in einem anderen Genre, nicht beim Film.“
    Die junge Frau legte ihre Oberbekleidung ab, faltete das Tuch behutsam zusammen und verstaute es in der Reisetasche, die, wie der Künstler Iwanow sah, halbleer war.
    Ein Ruck ging durch den Zug. Er fuhr einige Meter, dann hielt er wieder an. Noch einmal ruckelte es. Erst dann

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