Der Wald der Könige
gewesen sein, nicht das, in dem sie jetzt lebte.
Ihr Haus Albion hatte sie an einem Sommertag zum ersten Mal gesehen.
Es war sehr warm gewesen. Vermutlich war es später Vormittag, möglicherweise ein Sonnabend. Sie wusste es nicht mehr genau. Doch sie waren zu zweit von der alten Kirche in Boldre gekommen, nur sie und ihr Vater. Sie schlenderten die alte Straße am Ostufer des Flusses entlang und nahmen den Pfad durch den Wald. Dort wuchsen junge Buchen, hauptsächlich Schösslinge, zwischen Eichen und Eschen. Die Strahlen der Sonne fielen schräg durchs Blätterdach. Junge Bäume breiteten die Blätter aus und schimmerten grün im Unterholz. Vögel sangen. Sie war so glücklich, dass sie zu hüpfen anfing. Ihr Vater hielt ihre Hand.
Hinter der nächsten Kurve erblickten sie das Haus. Einer der beiden Giebel war bereits neu verkleidet worden; die alten Dachsparren aus Eiche reckten sich dem blauen Himmel entgegen. Die staubige Baustelle lag friedlich in der warmen Sonne. Ein paar Männer arbeiteten im Obergeschoss, nur das Klappern, das beim Festklopfen der Dachpfannen entstand, störte die Ruhe.
Sie waren stehen geblieben und hatten die Szene eine Weile beobachtet. Dann hatte ihr Vater gesagt: »Dieses Haus baue ich für dich, Alice. Es wird dir gehören, und niemand darf es dir wieder wegnehmen.« Bei diesen Worten hatte er zu ihr hinuntergeblickt und ihre Hand gedrückt.
Sie hatte ihren Vater angesehen und gedacht, dass er sie sicher sehr liebte, wenn er ein ganzes Haus nur für sie allein baute. Und in diesem Moment war sie so glücklich, wie man es vielleicht nur ein- oder zweimal im Leben ist.
Es war ein kleines Haus, nur ein wenig größer als das alte im Tudor-Stil, das ihrem Großvater und vor ihm dessen Vater gehört hatte. Aus rotem Backstein im Stil der Zeit Jakobs I. erbaut, erinnerte es an einen kleinen Herrensitz. Doch da es abseits in einer kleinen Lichtung mitten im Wald stand, wirkte es fast wie ein Einödhof oder eine Jagdhütte. Alice hatte ihr Glück kaum fassen können. Sie besaß nun ein Haus, weil ihr Vater sie so liebte.
Selbstverständlich hatte er auf einen Sohn gehofft. Inzwischen wusste sie das, doch seit jenem Sommertag waren zehn Jahre vergangen.
Von Clement Albions beiden Söhnen, William und Francis, hatte es William, der ältere und Alices Vater, weit gebracht und war zu einigem Wohlstand gelangt. Als junger Mann war er in den letzten Jahren von Königin Elisabeths Regierungszeit nach London gegangen, um die Jurisprudenz zu studieren. Und William hatte hart gearbeitet. Da das Führen von Prozessen zunehmend in Mode kam, hatte er immer genug zu tun. Und als die alte Königin fünfzehn Jahre nach dem Untergang der Armada gestorben war und ihr Vetter König James von Schottland den Thron bestieg, hatten sich noch weitaus größere Verdienstmöglichkeiten ergeben.
Als James Stuart, ein Mann in mittleren Jahren, König Jakob von England wurde, beschloss er, sich von nun an ein schönes Leben zu machen. Denn bis dahin hatte er sich nie amüsieren dürfen. Er war ein Sohn der glücklosen Maria Stuart – die er kaum kennen gelernt hatte –, und nach der Beseitigung seiner Mutter war er von den säuerlichen Presbyterianern als Herrscher in ihrem Sinne erzogen worden; sie hatten ihn an der kurzen Leine gehalten. Als er nun endlich zum englischen König gekrönt wurde, brannte er darauf, alles Versäumte nachzuholen.
Allerdings hatte der schottische König seltsame Vorstellungen von Amüsement. An gründliches wissenschaftliches Arbeiten gewöhnt – er war wirklich sehr gebildet und konnte recht witzig sein –, entwickelte er eine Theorie, derzufolge der König sich auf das Gottesgnadentum berufen und deshalb tun und lassen konnte, was ihm beliebte. Ob er diesen entsetzlichen Unsinn selbst glaubte oder ihn nur als Vorwand benutzte, um seinen Zerstreuungen nachzugehen, wurde nie geklärt. Außerdem stand der mehrfache Vater nun offen zu seiner Schwäche für hübsche junge Männer, was abwechselnd zu peinlichen, rührseligen oder gar tränenreichen Szenen führte. In seinen letzten Jahren bestritt er Empfänge bei Hofe hauptsächlich damit, dass er die Objekte seiner Begierde abküsste und betrachtete. Seine dritte Liebe galt einer Leidenschaft, der er oben im Norden leider nie hatte frönen dürfen: der Verschwendungssucht. Im Gegensatz zu den prächtigen (von anderen bezahlten) Festivitäten, die Königin Elisabeth bevorzugt hatte, pflegte man am Hof von König Jakob I. schlicht
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