Der Wald des Vergessens
hatte. Und sie sagte etwas über Schlechtes, das gut sein kann. Wie wenn man lügt. Aber man muß aufpassen.«
»Und fluchen?«
»Sie hat gesagt, wenn einem was Schweres auf den Zeh fällt, dann ist es gut, ein besonderes Wort zu haben, das man schreien kann, damit man den Schmerz aus sich rauskriegt, und deshalb sind einige Wörter schlecht, es sei denn, man muß einen Schmerz rauslassen.«
Sie schlief schon fast. An der Tür hielt er inne und fragte: »Warum hast du Steine geschmissen?«
»Ein Mann kam mit einem Hund am Spielplatz vorbei. Der Hund hat nicht gemacht, was er sollte, und da hat der Mann ihn mit der Leine gehauen, und er hat gejault. Also habe ich mit Steinen nach dem Mann geworfen, und da hat er auch gejault.«
Unten sah er Ellie am Eßtisch sitzen, das Tagebuch im Schulheft offen vor sich. Er beobachtete, wie sie sich eine Träne aus dem Auge wischte. Leise ging er in die Küche, stellte die Mikrowelle an, machte einen grünen Salat, goß zwei Glas Wein ein und brachte das Essen auf einem Tablett ins Zimmer.
Ellie sagte fröhlich: »Er hatte deine Einstellung zu Satzzeichen. Im Zweifel lieber weglassen.«
»Er und Bernard Shaw.«
»Und seine Schrift ist noch schlimmer als deine. Darin kann ich nichts entziffern.«
Sie deutete auf den kleinen Lederband.
»Man braucht eine Lupe. Es ist sein Tagebuch aus den Schützengräben. Soweit ich ausmachen kann, endet es im Frühjahr 1917, als er Heimaturlaub hatte. Er hat es wahrscheinlich zu Hause gelassen, damit es sicher war, und hat in Flandern ein neues angefangen. Gott weiß, was damit passiert ist.«
»Und das hier?« sagte Ellie und deutete auf die Dokumentenmappe.
»Das habe ich noch nicht durchgesehen, aber es sieht so aus, als handele es sich um Adas Bemühungen, Informationen darüber zu bekommen, was wirklich mit ihrem Vater passiert ist. Briefe an das Kriegsministerium, Parlamentsmitglieder, solche Sachen. Und die Antworten. Ein Archiv der Frustration. Aber wichtig sind die älteren Dokumente. Hier. Stell dir vor, das liegt in deinem Briefkasten.«
Er holte ein gefaltetes, vergilbtes Blatt hervor und legte es vor sie. Es war vom Infanteriearchiv, datiert November 1917.
Sehr geehrte Mrs. Pascoe,
ich habe den Auftrag, Ihnen mitzuteilen, daß wir vom Kriegsministerium in Kenntnis gesetzt wurden, daß Ihr Mann, Unteroffizier Pascoe, Peter, von einem Kriegsgericht zum Tode durch Erschießen verurteilt wurde und das Urteil am 20. November 1917 vollstreckt wurde.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Die Unterschrift war unleserlich.
»O Gott«, sagte Ellie. »Ich kann es gar nicht glauben, daß man den Leuten wirklich so etwas geschickt hat.«
»Nur an etwa dreihundert« sagte Pascoe.
»Diese Schweine, oh, diese Schweine!« sagte Ellie.
»Das liegt alles lange zurück, und was sind dreihundert im Vergleich zu den Millionen, die damals umkamen«, sagte Pascoe. »Ich paraphrasiere.«
»Nun sei ja nicht neunmalklug«, sagte sie heftig. »Wir haben kaum genug Zeit und Energie, die Kämpfe zu bestreiten, die heutzutage anstehen, ohne uns ein Bein auszureißen, auch noch altes Unrecht zu tilgen. Aber hierbei geht es ja gar nicht um ein Prinzip, Peter. Es geht um einen Menschen. Um eine ganze verdammte Familie!«
Sie schlug mit der flachen Hand auf das offene Schulheft.
»Ja. Ganz schön ironisch, was?« sagte Pascoe. »Entschuldige, das soll kein ›Ich-hab’s-dir-ja-gesagt‹ sein. Ich habe mich schon dabei ertappt, wie ich mir gewünscht habe, Ada hätte getan, was sie eigentlich tun wollte, und die ganze Scheiße verbrannt, anstatt sie mir aufzubürden.«
»Das hätte sie tatsächlich ruhig tun können. Es ist ja nicht so, als ob du in der Lage wärst, mehr herauszufinden als sie, oder?«
»Ich weiß nicht. Ich weiß nur, daß ich irgendwie mittendrin zu stecken scheine. Du weißt doch, wie das Haus hieß, in dem Peter aufwuchs? Wanwood. Und die Familie, für die seine Mutter als Kindermädchen arbeitete, waren die Grindals. Und dieses medizinische Genie, Sam Batty, seine Nachkommen und die der Grindals sind noch immer Eigentümer der Firma. Sieh her, hier ist ein Brief von Herbert Grindal, in dem er meiner Urgroßmutter sein Beileid ausspricht. Er war Offizier bei den Wyfies, und als ich heute morgen das Archiv in Wanwood durchsah, bin ich auf seinen Namen gestoßen. Er war Patient in Wanwood, als es während des Kriegs in ein Krankenhaus umgewandelt worden war. Ich sag dir, es ist ganz wie im Ypernbogen, von allen Seiten trifft
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