Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
brachte Olga bis zur Endhaltestelle. Der Fahrer stellte den Motor ab und reckte sich steif und schwerfällig, bevor er sich eine Zigarette anzündete. Olgas Top klebte am Rücken fest. Langsam schlenderte sie die schmale Straße hinauf, Richtung Kloster. Olga erinnerte sich an die vielen kleinen Geschäfte, die es früher hier gegeben hatte. Jetzt aber waren die Schaufenster zugemauert worden und nur noch der bleiche Abdruck eines Schriftzugs über der Eingangstür erinnerte an das geschäftige Treiben in den schmalen Gassen. Vor ein paar kleinen Häusern, die etwas zurückgesetzt nahe der schroffen Felswand standen, zu deren Füßen sich der Fluss entlangschlängelte, blieb sie abermals stehen. Hier hatte Juliane gewohnt. Eine Nachbarin kam aus der Tür drei Häuser weiter, musterte Olga neugierig, die still und andächtig auf dem Bürgersteig stand, und steuerte auf sie zu.
»Sind Sie eine Freundin von Frau May? Ich kann es gar nicht fassen, dass sie ermordet worden ist. Haben Sie die Arme gut gekannt?«
Olga war für einen kurzen Moment irritiert, dann antwortete sie schnell: »Nein, ich arbeite für die Zeitung. Hatten Sie Kontakt zu Frau May?«
»Tja, wissen Sie …«, sie hielt inne. »Sie hat noch nicht lange hier gewohnt. Und außerdem war sie ständig unterwegs, hat ja nur gearbeitet. Manchmal war sie wochenlang nicht hier. Also, viel kann ich nicht sagen. Tut mir leid.«
Olga bedankte sich und ging langsam weiter. Sie wusste nicht, was sie die Nachbarin hätte fragen sollen. Sie wusste nur, dass sie sich nicht allzu auffällig verhalten durfte, damit Kommissar Kirschbaum keinen Verdacht schöpfte. Sie schlenderte in Richtung Altstadt, die unterhalb des Klosters direkt an der Wupper lag, und setzte sich an den Fluss, der hier in einer großen Biegung, der »Wupperschleife«, um den Ort herumfloss. Olga blickte auf den mächtigen Felsen, der weit in den Himmel ragte. Hier irgendwo in einem verborgenen Winkel musste die Zwergenhöhle liegen, von der Benno immer erzählt hatte. Sie selbst war nie dort gewesen, weil die Höhle nur nach einer waghalsigen Kletterei zu erreichen war.
Entschlossen wandte Olga sich ab und ging in Richtung Kloster zurück, das hinter Julianes Haus lag. Dort angekommen bog sie von der Straße ab und betrat den Klostergarten hinter den Gebäuden. Auch hier fiel der Fels steil zum Fluss hin ab, und Olga stellte rasch fest, dass es keine Möglichkeit gab, weiterzugehen. Ihr Plan, von hinten an Julianes Haus zu gelangen, war gescheitert. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als das Haus an den Nachbarn vorbei von der Vorderseite aus zu betreten. Missmutig ging sie die enge Straße, die keine zwei Autos gleichzeitig passieren ließ, zurück. Kurz vor Julianes Haus blieb sie stehen. Sie lauschte und sah sich um. Außer ihr war keine Menschenseele mehr unterwegs.
Schnell huschte sie den kleinen Weg entlang und verschwand hinter Julianes Haus. Olga stellte fest, dass der Abgrund hier nicht weniger Furcht einflößend war. Aber sie war relativ sicher vor den neugierigen Blicken der Nachbarn. Sie inspizierte die Hintertür und die beiden kleinen Kellerfenster, alles war fest verschlossen. Da entdeckte Olga das kleine Eisengitter, das etwas schief inden Boden eingelassen war und auf dem zwei große Blumentöpfe mit völlig vertrockneten Pflanzen standen, die nicht mehr zu identifizieren waren. Sie stellte die Töpfe zur Seite und musterte das schmutzige Loch. Unkraut wucherte darin, und Olga sah auf Anhieb mindestens fünf Erdkröten zwischen den grünen Blättern hocken. An der Hausseite befand sich ein kleines Fenster. Spinnweben bedeckten es wie eine Spanngardine. Aber es war nur angelehnt.
Olga sah an sich hinunter, betrachtete dann das Fenster. Passte sie da durch? Es war ihre einzige Chance, unbemerkt ins Haus zu gelangen. Sie legte das Gitter beiseite und setzte sich an den Rand des Kellerlochs. Behutsam sammelte sie die Kröten ein und entließ sie in die Freiheit, dann stieß sie mit dem Fuß gegen die beiden kleinen Fensterflügel, die ein knarzendes Geräusch von sich gaben und die Spinnweben mit einem Knistern zerrissen.
Olga tappte durch den feuchten, nach Moder riechenden Keller. Es dauerte eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatte. Sie stieg die hölzerne Kellertreppe empor und befand sich nun im Flur des winzigen Hauses. Sie stand still und horchte. Es war ruhig. Gespenstisch ruhig. Auch von draußen drang kein einziger Laut herein. Sie blickte sich kurz
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