Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
auf den Regalbrettern. Eines, ein großer Foliant mit dem Titel ›Heroische Landschaften‹, lag aufgeschlagen mit den Buchdeckeln nach oben auf dem Boden, so dass mehrere Seiten umgeknickt waren.
Olga starrte das Buch an. »Schau dir das an.«
Thorvald trat hinzu und schaute lange auf das Buch. »Er hat irgendetwas gesucht«, sagte er leise.
»Oder jemand anders!« Olga sah Thorvald an. »Würde Benno ein Buch so behandeln?«
Thorvald erinnerte sich daran, wie Benno sich aufregen konnte, wenn Thorvald seine Bücher aufgeschlagen und mit dem Buchdeckel nach oben abgelegt hatte, weil er zu faul war, ein Lesezeichen zu suchen. Er hob das Buch auf und legte es ordentlich auf den Schreibtisch. Olga trat hinzu und sie schauten sich die Seiten an. Rechts war eine Waldlandschaft von Jacob van Ruisdael abgebildet.
Thorvald klappte das Notebook auf und fuhr mit dem Finger über den Trackpoint. Langsam erwachte das Gerät mit einem Surren wieder zum Leben. Er war nur in Schlummerposition gewesen. Benno hatte einfach den Deckel zugeklappt und war abgehauen. Thorvald schob sich den Stuhl zurecht, rief das Internet auf und ging das Protokoll der Suchmaschine rückwärts durch. Benno hatte die Homepages unzähliger Museen angeschaut, und zwar insbesondere solcher, die Provenienzforschung und Kunstraub zum Thema hatten, oder sich mit Kunstauktionen beschäftigten.
»An was hat er denn noch gearbeitet? Außer der neuen Ausstellung, meine ich«, fragte er, während er die Seiten durchging.
Olga überlegte. »Soviel ich weiß, hat er nur an der Turner-Ausstellung gearbeitet, da war er schon im Rückstand.«
»Hat er sich mit Provenienzforschung beschäftigt?«
»Ja, er wollte diesem Thema demnächst eine Ausstellung widmen. Hat er mir beim Klassentreffen erzählt. Es soll um Bilder gehen, die während der Nazizeit enteignet wurden und jetzt in Museen oder in Privatbesitz sind.«
Sie wollte sich gerade wieder dem Rechner zuwenden, als die Türklingel so laut schrillte, dass Olga fast schwarz vor Augen wurde. Sie starrten sich an. Durften sie überhaupt hier sein? Aber Benno hatte Thorvald ja den Schlüssel gegeben, dachte Olga sofort. Es schellte abermals, allerdings energischer, und jemand hämmerte mit der Faust an die schwere rote Metalltür.
»Machen Sie auf, Frau Ambach. Hier ist Kriminalhauptkommissar Kirschbaum. Wir wissen, dass Sie hier sind!«
Olga und Thorvald sahen sich an. Dann ging Thorvald entschlossen zur Tür und öffnete sie.
Kirschbaum und zwei Beamte traten ein und bugsierten Thorvald und Olga in die große Küche. Kirschbaum sah müde aus.
»Darf ich fragen, was Sie hier suchen?«, fragte er knapp.
»Wir suchen Benno«, antwortete Olga brav.
»Wie sind Sie hereingekommen?«
»Ich habe einen Schlüssel.« Thorvald holte den Schlüssel aus seiner Hosentasche und hielt ihn hoch. »Den hat Benno Thalbach mir gegeben. Ich soll ihn behalten, solange ich hier bin.«
»Darf ich?«
Kirschbaum streckte die Hand aus, um den Schlüssel entgegenzunehmen.
»Warum?«
»Sie werden schon gehört haben, dass wir mit Herrn Thalbach reden müssen. Er gehört zum Kreis der Verdächtigen.«
Thorvald lachte verächtlich auf. Er legte den Schlüssel auf den Küchentresen und setzte sich auf einen der Stühle, die um den großen, rechteckigen Tisch herumstanden.
»Dann können Sie genauso gut uns festnehmen«, sagte er resigniert.
Thorvald erinnerte sich plötzlich an Bennos Gesichtsausdruck der letzten Tage. Dieser flackernde, schwarz funkelnde Blick, der den sonst so sanften Augen etwas Dämonisches, Besessenes verlieh. Unerreichbar für Appelle an die Vernunft oder für Trost. Dann aber fielen ihm die Kinderaugen seines besten Freundes ein. Er wusste, dass es den Benno von damals gar nicht mehr gab. Jenen dürren und quirligen, schwarzhaarigen Jungen, mit dem er nächtelang durch die Wälder gestreift war und unzählige selbst gezimmerte Baumhütten bewohnt hatte, ohne dass die Eltern irgendetwas mitbekommen hatten. Jenen Jungen, der ihm mit seinem Flitzebogen einen Indianerpfeil ins Bein schoss, ihn bei Mathearbeiten abschreiben ließ, seine erste Freundin hinter seinem Rücken küsste und der, nach mehreren vergeblichen Versuchen, sich zu pieksen, fast verblutete, weil er sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte, um dann doch noch sein Blutsbruder zu werden.
Die lange Zeit der Trennung hatte Benno verändert. Das begriff Thorvald jetzt. Wie er heute war, darüber konnte er nur mutmaßen.
»Ich war am Abend des
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