Der Wald Steht Schwarz Und Schweiget
widerhallte. Alle, die mit Vincent oder mit Roman zu tun hatten, sollten es einfordern. Diese letzte große Tat würde alle befreien und Vincent könnte mit gutem Gewissen und erlöst in die Grube fahren. Wie der fliegende Holländer. Dann würde Olga auch nicht mehr von Ruben träumen. Diese plötzliche Klarheit durchströmte Olga mit neuer Kraft, die sogar ihr ständiges Schlafdefizit ausglich.
Wo ihr Vater nur steckte! Bevor sie zu ihrem Großvater ging, musste sie mit ihm reden. Das war zwar nicht minder schwierig, aber sie musste sich irgendwie vorbereiten. Sie brauchte ja nicht von Versöhnung zu sprechen. Von ihrem Vater benötigte sie nur einen Anstoß. Es reichte schon aus, wenn er sie für verrückt erklären, sich aufregenoder irgendeine andere ablehnende Reaktion zeigen würde. Das würde Olga in Fahrt bringen. Es war eigentlich völlig egal, wie ihr Vater reagierte. Nur
dass
er reagierte, war nötig.
Irgendwann wollte Olga nicht länger warten. Sie lief in den Wald, folgte einfach dem Hohlweg. Beim Laufen kamen die Gedanken von ganz allein. Und körperliche Bewegung war das Einzige, was Olga blieb, um der Stagnation der letzten Tage entgegenzuwirken, diesem Stillstand, der nachgerade unerträglich geworden war.
Sie hatte die abgetragenen, viel zu großen Shorts und die ausgelatschten Turnschuhe an und spürte bereits nach wenigen Metern, wie sehr ihr das Laufen gefehlt hatte.
Der Hohlweg verzweigte sich in viele kleinere Wege, die sich schließlich ganz im Wald verloren. Nach einer Stunde verlangsamte sich ihr Tempo. Vorsichtig bahnte Olga sich den Weg durch eine kleine Lichtung, die auf der einen Seite mit Brennnesseln zugewachsen war. Jetzt konnte sie den Weg nur noch ahnen. Schweiß strömte aus jeder einzelnen Pore ihres Körpers und schwemmte den säuerlichen Unmut mit hinaus. Olga fühlte sich zusehends freier und entspannter. Sie hielt Ausschau nach dem Bach, in dem sie sich abkühlen wollte, und holte dabei das Telefon aus der Tasche ihrer Shorts. Unzählige Male hatte sie die Wahlwiederholung gedrückt, und auch jetzt ließ sie Bennos Handy so lange klingeln, bis sich die Mailbox meldete.
Das leise Klingeln kam von rechts aus den Brennnesseln und verstummte mit dem Einsetzen der Mailbox. Olga blieb stehen. Sie starrte auf ihr Telefon, als hielte sie dieses seltsame Ding zum ersten Mal in der Hand. Langsamführte sie es an ihr Ohr, sie hörte gerade noch den Piep, der sie zum Sprechen aufforderte. Sie unterbrach die Verbindung. Dann wählte sie wieder, es klingelte erneut.
Vorsichtig drehte Olga den Kopf in die Richtung, aus der das Klingeln zu kommen schien, bis es wieder verstummte. Olga trat die Brennnesseln, versuchte, sie nicht zu berühren. Sie drehte sich einmal um sich selbst und wählte mit klopfendem Herzen wieder Bennos Nummer.
Das Handy lag unter dem Adlerfarn, der den Weg säumte. Die großen Wedel sahen unberührt aus, doch einen Meter weiter waren sie abgekickt worden, und zwar, wie es den Anschein machte, vor nicht allzu langer Zeit. Es war still. Olga spürte wieder diese Spannung in ihrem ganzen Körper, die sie auch empfunden hatte, als sie Juliane gefunden hatte. Sie schloss die Augen und spürte brennende Tränen aufsteigen.
»Nein, bitte … nein«, flüsterte sie.
»Benno?« Olgas vorsichtiger Ruf blieb ohne Echo. Ohne Antwort. Sie rief erneut und hörte selbst die Angst, die in ihrer Stimme mitschwang. Es war still. Nur ein Eichelhäher gab aus sicherer Entfernung Antwort, dann wieder Stille. Sie hob das silberne Telefon auf, das Display zeigte zweiundsiebzig Anrufe in Abwesenheit.
Über fünfzig Polizeibeamte mit Suchhunden hatten die Umgebung großräumig durchkämmt. In einer geschlossenen Kette waren sie nebeneinander durch das unwegsame Gelände gegangen und hatten überall herumgestochert. Wenn Benno selbst, oder etwas, das er verloren hatte, noch hier gewesen wäre, dann hätten sie es gefunden. Ihr Blick ging auch nach oben … sie mussten jede noch so abwegige Möglichkeit in Betracht ziehen.
Olga staunte, in welch kurzer Zeit Kirschbaum diese gut organisierte Truppe herbeikommandiert hatte. Es kam ihr vor wie eine Demonstration des perfekt funktionierenden Polizeiapparates. Der Fund wurde offensichtlich als brandheiß eingestuft. Die Hunde durchschnüffelten jeden Winkel, doch immer wieder verloren sie durch die unzähligen Wasserschneisen die Spur. Irgendjemand hatte sich einmal die Mühe gemacht und über dreitausend namentlich erfasste
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