Der Wanderchirurg
seiner Linken Schwierigkeiten hatte, wahrscheinlich ist er ein ausgeprägter Rechtshänder.« »Nun mach aber mal einen Punkt!« Der Magister stieß Vitus freundschaftlich in die Seite. »Du weißt, dass auch ich nicht gerade ein Freund von unserem Doctorus bin, aber diese Operation hat er gut durchgeführt.«
»Hm.«
»Ich verstehe ja, dass ihr Ärzte untereinander zu Rivalitätsgefühlen neigt, aber was gesagt werden muss, muss gesagt wer ...«
»Doctorus, Doctorus! Bitte! Würdet Ihr Euch das einmal anschauen?« Eine dürre Frau mit spitzer Nase und schmalen Lippen hatte sich vorgedrängt und hielt Bombastus Sanussus ein Nachtgeschirr mit Deckel entgegen.
»Aber gern!« Des Doctorus Stimme übertönte den Platz. »Eigentlich wäre dies eine Aufgabe für Senora Tirzah, aber ich will Euch die Bitte nicht abschlagen. Ist das Euer Urin, gute Frau?«
»Nein, es ist der, äh ... Urin meiner Schwester.« Ihr puterroter Kopf strafte sie Lügen. »Sie fühlt seit längerem einen Knoten in der Brust und hat große Sorge, dass der Krebs sie zerfrisst.«
»So will ich sehen, ob diese Sorge begründet ist!« Der Doctorus nahm das Gefäß entgegen, hob den Deckel, roch am Inhalt, verzog die Nase und goss den Urin in eine matula um. »Dieses kolbenförmige Glas, ihr guten Leute«, rief er mit schallender Stimme, »wird mir dazu dienlich sein, den Urin in seiner Beschaffenheit genau zu studieren. Die Uroskopie, wie die Wissenschaft die Harnschau nennt, kann nicht hoch genug bei der Diagnose einer Krankheit eingeschätzt werden!« Er hob die matula gegen das Licht und dozierte weiter: »Wir Gelehrten unterscheiden insgesamt dreiundzwanzig verschiedene Harnfarben, von quellwasserhell über milchig weiß, himbeerrot, tannengrün bis hin zu taubengrau und schwarz!« Er schüttelte das Glas und betrachtete es kritisch. Die Menge war jetzt so still, dass man nur das Rauschen des Windes und das Quaken der Frösche hörte. »Wir sprechen von dünnflüssigem, mittelflüssigem und dickflüssigem Harn«, fuhr Bombastus Sanussus fort, »und teilen die Flüssigkeitssäule der matula in drei Zonen ein: die obere, die mittlere und die untere! Je nachdem, wo sich bestimmte Substanzen wie Bläschen, Tröpfchen, Wölkchen, Flöckchen et cetera absetzen, sind sie Indices dafür, was dem Patienten fehlt!« Er schüttelte die matula abermals, steckte einen Finger in die Flüssigkeit und kostete, ohne mit der Wimper zu zucken, davon. Nachdenklich nickte er. Wieder hielt er das Glas gegen das Licht. »Bei dem Harn Eurer Schwester schweben im oberen Glasbereich kleine Wölkchen, nubes genannt, sie sind ein Zeichen dafür, dass auch im oberen Teil ihres Körpers etwas im Ungleichgewicht ist.«
»Herr Doctorus, meine Schwester will keine Opera...«
»Verzeiht, ich war noch nicht am Ende. Ich komme nunmehr zur Uromantie, zur Urinwahrsagerei, die mir hilfreich ist, um zu sehen, welch ein Temperament Eure Schwester hat. Da nun der Harn von rötlicher Einfärbung ist und dazu recht dünn, will mir scheinen, dass sie ein sehr schlanker, um nicht zu sagen überschlanker Mensch ist, mit einem spitzen Gesicht, ein Mensch, der zu Wutanfällen neigt und dem die Galle leicht überläuft ...« Die Dürre schnappte nach Luft.
»... aber einen edlen Charakter hat!«, ergänzte der Doctorus glatt. Er betrachtete ihre tiefen Falten, die sich von der Nase herab um die Mundwinkel zogen. »Auch wenn sie manchmal unter Magenproblemen leidet.«
Zufrieden stellte er fest, dass die Dürre unmerklich nickte. »Nun, gute Frau, Ihr seid nicht umsonst gekommen, Eurer Schwester kann geholfen werden, und zwar ganz ohne Operation. Nehmt für sie von meinem Balsamum vitalis drei Flaschen mit, sie möge morgens, mittags und abends je einen großen Löffel davon zu sich nehmen, und in Kürze wird sie ruhiger werden und der Knoten sich von selbst auflösen!«
»Ich danke Euch, Doctorus, der Allmächtige segne Eure Hände.«
»Dankt nicht mir, dankt der Wissenschaft, der ich mich verschrieben habe!« Er winkte Tirzah, die mit den verordneten Flaschen kam.
»Was hältst du von alledem, Vitus?«, fragte der kleine Gelehrte. »Ich fand seinen Vortrag über die Harnschau sehr interessant.«
»Ich halte nicht viel davon«, entgegnete Vitus düster,
»und von der Harnwahrsagerei schon gar nichts. Es war doch ganz offensichtlich, dass die dürre Frau ihren eigenen Urin überreichte, aber vorgab, es sei der ihrer Schwester, weil sie sich vor den Leuten genierte. So war es für
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