Der Weg der gefallenen Sterne: Roman
mit Leon und einem Dutzend Anführer über eine Karte der Enklave gebeugt. Bei Pyrhos Worten richtete sie sich auf und sah, dass Myrna neben sie getreten war.
»Menschen werden verletzt werden, wenn wir das tun«, sagte sie. »Es ist noch nicht zu spät, uns anders zu entscheiden.«
»Ich habe es mir überlegt«, sagte Gaia.
»Dann überleg noch mal«, entgegnete Myrna.
Gaia ließ den Blick über die Gesichter schweifen, wach und erwartungsvoll im flackernden Fackelschein. Sie wollten es so. Sie waren bereit, das Risiko auf sich zu nehmen, und Gaia war ihre Anführerin. Sie war ihnen das schuldig.
»Du warst einmal Hebamme«, sagte Myrna. »Weißt du noch?«
»Das bin ich noch immer«, erwiderte Gaia.
»Ach wirklich? Denk doch einmal nach, was du da tust.«
Die Menschen Wharftons hatten viele Jahre unter der Herrschaft der Enklave gelitten, und den Flüchtlingen aus New Sylum hatte man einen bitteren Empfang bereitet. Dennoch konnte Gaia die Maschinerie, die sie angestoßen hatte, immer noch aufhalten, wenn sie wollte.
Zögernd wich sie vom Tisch zurück.
»Nicht«, sagte Leon leise. Seinen Arm trug er mittlerweile in einer Schlinge vor der Brust. Er hatte bislang keine Gelegenheit zum Umziehen gefunden und hatte daher noch immer seine weißen Sachen aus der Bastion an. »Macht das nicht komplizierter, als es ist. Wir reißen die Mauer ein, gehen zur Bastion und zwingen den Protektor zur Aufgabe.«
»Und der Protektor befiehlt seinen Wachen, uns alle zu erschießen«, sagte Gaia. Sie sah es mit schrecklicher Klarheit vor sich: ein Blutbad auf dem Bastionsplatz.
»Genau das wird passieren«, bekräftigte Myrna. »Macht jetzt keinen Fehler.«
Leon griff nach Gaias Arm.
»Hör nicht auf sie«, sagte er. »Denk daran, wir haben Verbündete da drin. Die Jacksons und ihre Freunde werden uns unterstützen, genau wie die vorgebrachten Kinder und ihre Familien. Sie werden nicht zulassen, dass der Protektor uns einfach niedermäht.«
»Sie sind Feiglinge«, widersprach Myrna. »Sie werden sich um ihr eigenes Wohl sorgen und nichts mit eurer Gewalt zu tun haben wollen. Sobald ihr nicht mehr seid, wäre es der Enklave ein Leichtes, sie zu jagen und einen nach dem anderen zu erledigen. Und das wissen sie genau.«
»Könntet ihr beide bitte zu streiten aufhören?«, sagte Gaia.
Stille breitete sich aus, und Gaia begriff, dass alle ihnen lauschten. Sie musste nachdenken, ihre Möglichkeiten abwägen. Ihr Blick fiel auf Leons gebrochenen Arm, und da beschlich auf einmal die kalte Furcht sie, dass er das erste Opfer sein könnte. Wie sollte er mit nur einem Arm denn kämpfen? Vielleicht führte sie sie alle in den Tod.
Gaia blickte die Menschen um den Tisch herum an – die Menschen, deren Rat ihr in diesem Moment am wichtigsten war: Leon, Will, Peter, Dinah, Derek, Norris, Bill, Myrna, Jack und Pyrho. Auch die Anführer der anderen Klane waren da, genau wie Malachai und die Exkrims und viele ihrer alten Freunde aus Wharfton. Bei jedem einzelnen Gesicht fuhr ihr ein Stich ins Herz. Sie durfte sie nicht in Gefahr bringen.
»Wir können nicht in den offenen Kampf ziehen«, sagte Gaia mit neuer Sicherheit. »Wenn wir sie angreifen, werden die Bewohner der Enklave sich gegen uns wenden und sich auf die Seite des Protektors stellen, selbst wenn sie unsere Sache befürworten. Sie werden sich und ihre Familie verteidigen wollen und uns dabei umbringen. Wir täten das Gleiche, wenn sie uns hier draußen angreifen würden.«
Die anderen murmelten leise, doch sie war sich ihrer Sache gewiss. Der Protektor wartete nur auf einen Vorwand, sie alle umzubringen. Er würde die Wache das Feuer eröffnen lassen, bevor sich irgendein Zivilist für sie einsetzen konnte.
»Unsere Pfeile richten gegen ihre Gewehre nicht viel aus. Ich kann uns nicht auf eine solche Selbstmordmission führen.«
»Was sollen wir dann tun?«, fragte Peter. »Wir müssen eine Entscheidung treffen. Alle sind bereit.«
»Wir waren schon einmal ohne Wasser«, schaltete sich Derek ein. »Von nun an wird es nur noch schlimmer. Wir müssen jetzt gleich handeln – nicht morgen oder übermorgen.«
Abermals ließ sie den Blick über die Menge schweifen. Gut vierhundert Leute hatten sich im Tvaltar versammelt, und draußen auf dem Marktplatz warteten Tausende mehr.
»Kommt mit nach draußen«, sagte sie. »Ich muss zu ihnen sprechen. Zu möglichst vielen.«
»Was hast du vor?«, fragte Leon leise.
»Die bestmögliche Entscheidung zu treffen«, sagte sie.
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