Der Weg ins Glueck
war es vorbei. Das merkten wohl beide Priester. Das Beste war, die Gebetsstunde in Ruhe zu beenden und die aufgeregte Menge zu entlassen. Mr Meredith richtete ein paar ernste Worte an die Jungen in Uniform - was wahrscheinlich Mr Pryors Fenster vor einem zweiten Angriff bewahrte -, und Mr Arnold sprach eine etwas ungereimte Segnung aus. Zumindest hatte er das Gefühl, dass da etwas nicht ganz stimmte, weil er ständig an diesen gigantischen Norman Douglas denken musste, wie er den kleinen, dicken, aufgeblasenen Mondgesicht-mit-Schnauzbart schüttelte - wie eine Bulldogge das Schoßhündchen. Und er wusste, dass alle dasselbe Bild vor Augen hatten. Diese Gebetsstunde konnte man jedenfalls nicht unbedingt als vollen Erfolg bezeichnen. Aber sie blieb den Leuten von Gien St. Mary in Erinnerung, während die althergebrachten Versammlungen, bei denen alles glatt lief, völlig in Vergessenheit gerieten.
»Nie mehr werde ich Norman Douglas einen Heiden nennen, liebe Frau Doktor, nie mehr!«, sagte Susan, als sie nach Hause kam. »Wenigstens heute Abend kann Ellen Douglas mal stolz sein.«
»Was Norman Douglas da angerichtet hat, ist nicht zu entschuldigen«, sagte Gilbert. »Man hätte Pryor in Ruhe lassen sollen, bis die Andacht vorbei ist. Später hätten sein Priester und der Kirchenvorstand sich damit befassen sollen. Das wäre der richtige Weg gewesen. Norman hat sich doch wirklich ungehörig und skandalös benommen. Aber, Donnerwetter noch mal«, rief Gilbert und lachte laut auf, »lustig war es doch, mein Anne-Mädchen!«
Liebesaffären
Ingleside, 20. Juni 1916
»Wir hatten so viel zu tun, und es gab so viele wichtige Meldungen, gute und schlechte, dass ich wochenlang weder Zeit noch Ruhe gefunden habe, in mein Tagebuch zu schreiben. Aber ich möchte es regelmäßig führen, denn Vater sagt, ein Tagebuch über die Kriegsjahre wäre bestimmt sehr interessant für die eigenen Kinder. Das Dumme ist nur, dass ich auch gern ein paar persönliche Dinge in mein geliebtes altes Buch schreiben möchte, die meine Kinder später nicht unbedingt lesen sollen. Ich werde ganz schön streng mit ihnen sein, wenn es darum geht, anderer Leute Eigentum zu respektieren, strenger als mit mir selbst.
Die erste Juniwoche war wieder mal schrecklich. Die Österreicher wären um ein Haar in Italien eingefallen. Und dann kam die erste furchtbare Nachricht von der Schlacht von Jütland, was die Deutschen als großen Sieg verkündeten. Den Tag werde ich nie vergessen. Wir verloren völlig den Mut. Wenn die britische Kriegsmarine uns wirklich im Stich ließe, worauf sollten wir uns denn dann noch verlassen können? »Es ist, als ob ein guter Freund mir mitten ins Gesicht geschlagen hätte«, sagte Miss Oliver, und ich glaube, wir fühlten alle genauso. Susan war die Einzige, die sich nicht beirren ließ. »Ihr könnt mir doch nicht erzählen, der Kaiser hätte die britische Marine geschlagen!«, sagte sie verächtlich. »Das ist doch alles eine Lüge der Deutschen, darauf könnt ihr euch verlassen.« Und als sich ein paar Tage später herausstellte, dass sie Recht hatte und dass es ein britischer Sieg gewesen war an Stelle einer britischen Niederlage, da mussten wir uns am laufenden Band anhören: »Habe ich es euch nicht gleich gesagt?« Aber wir trugen es mit Fassung.
Doch Kitcheners Tod machte Susan ganz fertig. Zum ersten Mal erlebte ich sie völlig am Boden zerstört. Es war für uns alle schlimm, aber Susan war so verzweifelt wie noch nie. Die Meldung kam nachts per Telefon, aber Susan konnte es erst glauben, als sie am nächsten Morgen die Schlagzeile in der Enterprise las. Sie weinte nicht, sie fiel auch nicht in Ohnmacht oder bekam einen hysterischen Anfall. Aber sie vergaß, Salz in die Suppe zu geben, und das ist etwas, was Susan noch nie passiert ist, soweit ich zurückdenken kann. Mutter und Miss Oliver und ich weinten, aber Susan blickte uns eiskalt an und sagte bissig: »Der Kaiser und seine sechs Söhne sind ja alle noch quicklebendig. So ist die Welt immerhin nicht völlig verlassen. Warum also weinen, liebe Frau Doktor?« Vierundzwanzig Stunden lang blieb Susan stur und unverbesserlich. Dann tauchte Cousine Sophia zwecks Beileidsbezeigung auf.
»Sind das nicht schreckliche Nachrichten, Susan? Jetzt müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen. Du hast mal gesagt -und das weiß ich noch ganz haargenau, Susan Baker -, dass du nur Gott und Kitchener völlig vertraust. Und so, wie es aussieht, Susan Baker, ist jetzt nur noch Gott
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