Der Weihnachtsfluch - Roman
aber es waren auf jeden Fall Stücke, die von Menschenhand bearbeitet worden waren und jetzt
zersplittert im Meer trieben. Sie wusste, dass es keine weiteren Leichen gegeben hatte. Entweder waren sie aufs Meer hinausgetrieben worden und dort für immer verschollen, oder sie waren an einem anderen Küstenabschnitt, vielleicht bei den Felsen der Landspitze, an Land gespült worden. Sie ertrug den Gedanken nicht, dass die Körper dort zerschmettert, auseinandergerissen und verloren dalagen.
Trotz der frischen, sauberen Luft und der Sonne, die schräg aus den Wolken lugte, überkam sie ein Gefühl der Verzweiflung, ein innerliches Frösteln.
Sie merkte nicht, dass jemand hinter ihr ging. Der Sand war weich, und die Brandung schluckte alle Geräusche.
»Guten Morgen, Mrs. Radley.«
Sie blieb stehen und drehte sich blitzartig um. Sie zog die Einkaufstasche näher an sich heran. Father Tyndale war nur ein paar Meter von ihr entfernt. Er trug keinen Hut, und der Wind blies durch seine Haare. Sein dunkles Jackett flatterte im Wind wie die Flügel einer verwundeten Krähe.
»Guten Morgen, Father«, sagte sie erleichtert. Aber warum war sie so erleichtert? Wen hatte sie denn erwartet? »Sie … Sie haben doch nicht noch jemanden gefunden?«
»Nein, leider nicht«, antwortete er mit trauriger Miene, so als wäre er selber verletzt worden.
»Glauben Sie, dass die Männer vielleicht überlebt haben? Vielleicht ist das Schiff gar nicht gesunken. Vielleicht ist Daniel nur über Bord gespült worden?«
»Vielleicht.« Seine Stimme klang nicht so, als ob er das für möglich hielt. »Kann ich Ihre Einkäufe tragen?« Er streckte den Arm aus, und sie war froh, ihm die schwere Tasche zu überlassen.
»Wie geht es Susannah heute Morgen?« Aus seinem Blick sprach mehr als Besorgnis - es war die pure Angst. »Und Maggie O’Bannion, ist alles in Ordnung mit ihr?«
»Ja, natürlich. Wir sind alle müde und traurig wegen der Toten, aber sonst geht es uns gut.«
Er gab keine Antwort; er signalisierte nicht einmal, dass er ihr zugehört hatte.
Sie wollte es gerade noch einmal, mit mehr Nachdruck sagen, als sie merkte, dass er aus einer tiefen Besorgnis heraus fragte, mit diesem gewissen Unterton, den sie immer deutlicher wahrnahm, seit der Wind zugenommen hatte. Er erkundigte sich gar nicht nach der Gesundheit und der Müdigkeit, vielmehr war er einer Gefühlsregung auf der Spur, die gegen die Angst ankämpfte.
»Kennen Sie den jungen Mann, der an Land gespült wurde, Father Tyndale?«
Er blieb abrupt stehen. »Er heißt Daniel«, fügte sie noch hinzu. »Ansonsten scheint er sich an nichts zu erinnern. Kennen Sie ihn?«
Vom Wind geschüttelt stand er da und starrte sie an, sein Gesicht glich einer Trauermaske. »Nein, Mrs. Radley, ich habe keine Ahnung, wer er ist oder warum er hierherkam.« Er sah sie nicht an.
»Er ist nicht hierhergekommen, Father«, verbesserte sie ihn. »Der Sturm hat ihn hergebracht. Wer ist es?«
»Wie ich schon sagte. Ich weiß es wirklich nicht«, sagte er erneut.
Die Art, wie er seine Worte wählte, kam ihr merkwürdig vor, ein vollständiges Leugnen, nicht einfach nur eine Unkenntnis, die sie eigentlich erwartet hatte. Irgendwas im Dorf stimmte nicht. Es starb nicht nur zahlenmäßig aus. Ein Gefühl der Angst lag in der Luft, das in keinem Zusammenhang mit dem Sturm stand. Der war gekommen und auch wieder vorbeigezogen, doch die Finsternis war geblieben.
»Vielleicht sollte ich Sie fragen, was Daniel für die Leute hier bedeutet, Father«, sagte sie plötzlich. »Ich bin fremd hier. Alle scheinen sie etwas zu wissen, nur ich nicht.«
»Daniel heißt er also«, sagte er leise vor sich hin, aber durch die plötzliche Windstille wirkte seine Stimme ganz laut.
»Das sagt er wenigstens. Sie scheinen überrascht zu sein. Kennen Sie ihn unter anderem Namen?« Sie merkte, dass sie einen schrillen Tonfall hatte. Ihre eigene Angst brach heraus.
»Ich kenne ihn wirklich nicht, Mrs. Radley«, sagte er noch einmal, aber wieder blickte er sie nicht an und die Qual in seinem an sich freundlichen Gesicht vertiefte sich noch.
Sie legte ihm die Hand auf den Arm, hielt ihn ganz fest und zwang ihn so, entweder stehen zu bleiben oder ihre Hand absichtlich abzuschütteln, aber dazu hatte er zu gute Manieren. Er blieb vor ihr stehen.
»Was ist los, Father Tyndale? Es hat was mit dem
Sturm und mit Daniel zu tun, und womit sonst noch? Alle haben sie Angst, als ob sie gewusst hätten, dass ein Schiff untergehen
Weitere Kostenlose Bücher