Der Weihnachtsfluch - Roman
hören, dass er nicht direkt aus dieser Gegend hier kommt, aber er muss ja nicht mal aus dem Norden sein. Er könnte von überall herkommen. Cork oder Killarney, selbst von Dublin.«
Emily bückte sich und kehrte den Dreck auf eine Schaufel. Es war nicht gerade viel. Mehr eine Geste als richtige Arbeit. »Ja, Sie haben Recht. Er könnte von überall herkommen. Sind die meisten Leute im Dorf auch hier geboren?«
»Fast alle. Mr. Yorke kommt aus Galway, glaube ich, aber ich vermute, seine Familie kommt aus einem der Dörfer in der näheren Umgebung. Er hat tiefe Wurzeln hier. Wenn Sie etwas von der Geschichte hier erfahren wollen, ist er der Richtige. Er kann Ihnen nicht nur die Geschichten erzählen, sondern auch, was sie bedeuten.« Sie lächelte listig. »Die ganzen alten Familienfehden zwischen den Flahertys und den Conneeleys, die guten Werke der Rosses und der Martins und auch die schlechten Taten und die Liebesgeschichten und die Kämpfe, die bis auf die Tage der irischen Könige zurückgehen, in die Zeit vor unserer Geschichtsschreibung.«
»Wirklich? Dann muss ich zusehen, dass er mir alles erzählt.« Emily fand die Idee gut, auch wenn sie nicht unmittelbar an der ganz alten Vergangenheit interessiert war. Sie versuchte wieder, das Gespräch in die Gegenwart zu lenken. »Die Flahertys scheinen eine interessante Familie zu sein. Was war Seamus Flaherty für ein Mensch? Brendan ähnelt ihm wohl sehr?«
Maggie wich ihrem Blick aus und konzentrierte sich ganz auf ihre Arbeit. »Oh, ich denke schon«, sagte sie nebenbei, aber in ihrer Stimme war eine gewisse Anspannung zu erkennen. »Oberflächlich gesehen ja. Er sieht ihm auf jeden Fall ähnlich. Dieselben Augen, derselbe Gang, als ob die Welt ihm zu Füßen läge, er aber durchaus anderen einen Teil davon gönnte.«
Emily lächelte. »Mochten Sie ihn?«
Maggie schwieg. Sie stand steif da, und ihre Hände bewegten sich jetzt langsamer.
»Ich meine Seamus«, stellte Emily klar.
»Oh, ich glaube schon, einigermaßen«, Maggie arbeitete nun wieder flotter. »Wenn man ihn nicht zu ernst nahm, war er ganz in Ordnung.«
»Was meinen Sie damit?«
»Nun, man konnte ihm nicht vertrauen«, führte Maggie aus. »Er konnte einem das Blaue vom Himmel versprechen, oh ja, und er konnte einen so zum Lachen bringen, dass einem die Luft wegblieb. Aber die Hälfte von dem, was er erzählte, war reiner Unsinn. Griff immer nach den Sternen. Und er konnte alle unter den Tisch trinken.«
»Immer ein Auge auf die Frauen?«, fragte Emily unverblümt.
Maggie errötete. »Oh, auf jeden Fall. Darauf konnte man sich verlassen. Darauf und auf eine Schlägerei.«
Emily brauchte nicht zu fragen, ob Mrs. Flaherty ihn geliebt hatte. Das hatte in ihrem Gesicht gestanden. Hinter der übertriebenen Fürsorge für ihren Sohn und der feinen Distanz, die sie zwischen sich und ihren Mitmenschen
aufbaute, lag eine tiefe Verletzlichkeit. Der Grund dafür war jetzt leicht zu erraten.
Aber Emily merkte, dass in Maggies Stimme auch Zärtlichkeit mitschwang. Sie verriet eine gewisse Befangenheit, nicht gegenüber dem Vater, vielmehr gegenüber dem Sohn. Wollte sie damit ihre eigenen Leute verteidigen, einen Mann, der von einer Fremden aus England nur zu leicht missverstanden werden konnte? Oder steckte mehr dahinter?
Emily schenkte ihre ganze Aufmerksamkeit nun der Verrichtung der Hausarbeiten. Maggie bügelte, was gar nicht so einfach war, weil die beiden flachen Bügeleisen abwechselnd auf dem Ofen heiß gemacht werden und genau die richtige Temperatur haben mussten, nicht zu heiß, um die Wäsche nicht anzusengen, aber auch nicht zu kühl, damit sie glatt gebügelt werden konnte.
Emily schälte das Gemüse, schnitt es in kleine Stücke und legte es in kaltes Wasser, bis Maggie bereit war, den Eintopf zu kochen.
Am Nachmittag ging Emily die Küste entlang zum Dorfladen. Sie brauchten Tee, Zucker und ein paar andere Dinge. Die Luft war frisch, aber nicht eisigkalt wie es zu dieser Zeit in London häufig vorkam. Der Wind kam immer noch aus Westen, vom Meer, und bei jedem Atemzug schmeckte man das Salz und die Algen. Über dem Wasser war es bis zum Horizont bewölkt, aber über ihr war der Himmel blau. Nur ein paar blendend weiße, hoch aufragende Wolken zogen langsam vorbei.
Das Ufer war uneben. Sand hatte sich über welkes
Gras und blühende Abschnitte gelegt, die Dünen bewegten sich von einem Ort zum anderen, als ob sie vergessen hätten, wo sie gewesen waren. Hier und da lag
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