Der Weihnachtsfluch - Roman
suchen hatte, nachdem sie mitten im Winter alleine die Küste entlang hierhergefahren war.
Sie berichtete so kurz wie möglich von dem Sturm und von Daniel, dem einzig Überlebenden des Schiffsunglücks. Sie konnte Mitleid und Trauer in seinem Gesicht sehen und sie war sich sicher, dass er über Connor Bescheid wusste.
»Nun, Mrs. Ross ist sehr schwer krank«, fuhr sie fort. »Ich glaube, sie hat nicht mehr lange zu leben. Es gibt Dinge, die ich vorher aufklären möchte. Daniels Erscheinen hat alte Geister heraufbeschworen, die man zur Ruhe bringen muss, egal, wie die Wahrheit aussieht.«
»Mrs. Radley, ich darf Ihnen nicht sagen, was Hugo Ross mir anvertraut hat«, sagte Father Malahide freundlich zu ihr. »Er kam, um Connors Familie ausfindig zu machen. Der junge Mann war wohl zu schwach, um selber kommen zu können, und alle seine Bootskameraden waren tot. Wie der junge Mann jetzt, schien er alleine auf der Welt zu sein, und er konnte sich an fast gar nichts erinnern. Leider lassen viele Männer ihr Leben vor Irlands Küsten, besonders in Connemara. Die Winter sind sehr rau, und die Stürme peitschen direkt vom Atlantik herein, nichts kann sie aufhalten.«
»Konnte Hugo Familienangehörige ausfindig machen?« »Ja. Seine Mutter lebte hier in Galway. Sie arbeitete in einem Waisenhaus der Kirche. Sie kümmerte sich um die Kinder, die niemanden mehr hatten. Natürlich war sie keine Nonne, aber sie war schon fast ihr ganzes Leben, seit sie erwachsen war, dort. Leider kann ich Ihnen nicht mehr sagen, Mrs. Radley. Das andere ist mir unter dem Siegel der Verschwiegenheit anvertraut worden. Sie werden das sicher verstehen. Leider muss ich Ihnen auch sagen, dass Connors Mutter jetzt nicht mehr lebt. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass sie Ihnen weitergeholfen hätte.«
»Nein«, stimmte ihm Emily ernst zu. »Ich weiß nicht, ob ich die Wahrheit darüber, was mit ihm geschehen ist, erfahre, und es würde sie auch nicht trösten, es zu wissen. Aber vielleicht kann mir sonst jemand im Waisenhaus sagen, was Hugo Ross wissen wollte und womöglich auch, was man ihm sagte.«
»Natürlich.« Er gab ihr die Adresse und die Wegbeschreibung
und riet ihr, vormittags hinzugehen, wenn die Schwestern am ehesten die Zeit hätten, mit ihr zu reden.
Sie dankte ihm und ging schnell durch die dunklen Straßen zu dem Gasthaus zurück, in dem sie übernachtete.
Am Morgen folgte sie Father Malahides Beschreibung und hatte keine Mühe, das Waisenhaus zu finden. Es war ein großes Gebäude aus grauem Stein mit vielen Nebengebäuden, die alle aussahen, als ob sie auch als Unterkunft dienten.
Emily ging zum Haupteingang und hob den Türklopfer. Es dauerte ein paar Minuten, bis ein schlankes junges Mädchen mit Sommersprossen ihr die Tür öffnete. Emily brachte ihr Anliegen vor, und sie wurde in ein kleines, ziemlich kühles Vorzimmer eingelassen. An der Wand hingen sorgfältig gearbeitete Stickereien, deren Darstellungen die Menschen abschrecken sollten, Sünden zu begehen, weil Gott alles sieht. Gegenüber hing ein sehr großes Kruzifix mit dem gekreuzigten Christus. Emily fühlte sich befangen und unbehaglich. Sie kam sich plötzlich fremd vor und fragte sich, ob es wohl eine kluge Idee gewesen war, überhaupt hierherzukommen.
Sie wurde zur diensthabenden Oberschwester geführt, einer müde wirkenden Frau mit einem blassen Gesicht voller Falten und einer wunderschönen braunen Lockenpracht.
Emily saß in dem Büro und hörte das rege Hin und Her im Gang, fröhliche Stimmen, die die Kinder aufforderten, sich zu beeilen, artig zu sein, schnell zu machen,
die Schnürsenkel zuzubinden, das Hemd in die Hose zu stecken und mit dem Schwätzen aufzuhören.
»Ich bin nach Connemara gekommen, um meine Tante, Susannah Ross, zu besuchen, die sehr krank ist und nicht mehr lange zu leben hat«, sagte sie offen und ehrlich. »Vor sieben Jahren war ihr Ehemann, Hugo Ross, hier und hat sich nach Mrs. Riordan erkundigt, weil ihr Sohn Connor der einzig Überlebende bei einem Schiffsunglück vor der Küste war, wo Mr. Ross lebte.«
»Ich kann mich noch an ihn erinnern«, sagte die Oberschwester und nickte. »Er ist nie wiedergekommen und der junge Mann, von dem er sprach, auch nicht. Leider weilt Mrs. Riordan nicht mehr unter den Lebenden. Gott hab sie selig.«
»Ja, ich weiß. Mr. Ross ist auch tot. Und Connor, fürchte ich, kam auch ums Leben«, antwortete Emily.
»Du meine Güte.« In dem Gesicht der Schwester stand echtes Mitgefühl. »Das
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