Der Weihnachtspullover
all diese Dinge getan hatte, bemerkte ich es sehr wohl.
»Es tut mir wirklich leid wegen des Fahrrads, mein Schatz.« Moms Stimme war zu sanft und liebevoll für das, was ich empfand. »Leider war die Dachreparatur so viel teurer, als ich erwartet hatte. Ich weiß, dass du das verstehst. Vielleicht schaffe ich es, so viel zu sparen, dass du es nächstes Jahr bekommst.«
Oh ja, und wie ich das verstand. Ich begriff, dass wir immer die arme Familie sein würden und ich immer das arme Kind mit Plastiktüten-Stiefeln und ohne Fahrrad.
Ich starrte auf den Pullover herab und spürte, wie meine Körpertemperatur anstieg, fast so, als hätte ich ihn bereits übergezogen. Ich wusste nicht, wer mich mehr enttäuscht hatte: Mom, weil sie mir nicht das gekauft hatte, was ich verdiente, Dad, weil er nicht auf mich aufgepasst hatte, oder Gott, weil er mein Versprechen ignoriert hatte. Ich war so schrecklich von ihnen allen enttäuscht, dass ich ganz vergaß, dass ich eigentlich den Ausschnitt unter mein Kinn halten sollte, als würde ich den Pullover anhalten, ob er auch passte.
»Ich hoffe, er passt!«, sagte Mom und versuchte mich damit an diese »Kinn-Sache« zu erinnern. Aber ich verstand den Wink nicht.
»Ganz bestimmt!«, erwiderte ich mit ausdrucksloser Stimme. Schließlich kam Mom zu mir herüber, nahm mirden Pullover ab und hielt ihn an meinen Rücken. Sie bohrte ihre Finger in meine Schultern, als sie die Ränder mit den Umrissen meines Körpers verglich. »Oh ja«, sagte sie. »So schnell wie du wächst, wird er bis zum nächsten Herbst genau die richtige Größe haben!« Sie war für meinen Geschmack viel zu begeistert von dieser ganzen Sache.
Ich vermochte mich nur zu einer halbherzigen Antwort aufzuraffen. »Danke Mom, er ist wirklich toll.«
»Er ist genauso wie diese teuren Pullover, die wir bei Sears verkaufen«, sagte sie und verlieh ihrer Stimme einen stolzen Klang, bemüht, gegen meine offensichtliche Enttäuschung anzukämpfen, die sich unkontrollierbar auf meinem Gesicht ausbreitete. »Wir verlangen beinahe vierzig Dollar für einen echten, handgestrickten Wollpullover. Das konnte ich mir natürlich nicht leisten, aber ich habe genug zusammenbekommen, um gute Wolle zu kaufen.« Sie verstummte und schaute mich an, als sei es ihr peinlich, ihr Geschenk rechtfertigen zu müssen.
»Doch, wirklich, er ist toll. Ganz toll. Ich konnte einen Pullover gut gebrauchen.« Ich vermochte meine Enttäuschung einfach nicht zu überwinden oder von meinen eigenen Gefühlen abzusehen, um zu erkennen, was dieses Geschenk für sie bedeutete.
Ich dachte zurück an den Zettel, den Mom unter dem Bett für mich hinterlassen hatte. Sie hatte recht, ich hatte nichts von meinem Geschenk mitbekommen. Mom hattejeden Abend direkt vor meiner Nase an dem Pullover gestrickt, während ich mir mit ihr Meine kleine Farm angucken musste, weil sie »Pa« Ingalls so schnuckelig fand (was ich ausbaden durfte). Aber jetzt erst begriff ich die Bedeutung: ein blödes, selbstgemachtes Geschenk, das beim Anschauen einer blöden Fernsehserie entstanden war. Ich wäre jede Wette eingegangen, dass meine Freunde, die sich all die Serien anschauen durften, die sie wollten (wie zum Beispiel Starsky und Hutch ), ganz bestimmt auch die Geschenke bekamen, die sie sich tatsächlich gewünscht hatten.
Meine Enttäuschung über den fehlenden Schnee am Morgen kam mir nun unbedeutend vor im Vergleich dazu, wie aufgebracht ich über mein Geschenk war. Du bist doch ein Idiot, dachte ich bei mir. Du hättest es besser wissen sollen. Du hättest es kommen sehen müssen.
Mom schaute mich mit einem Ausdruck in den Augen an, den ich ausnahmsweise einmal nicht so recht zu deuten vermochte. War sie erleichtert, dass ich glücklich schien, oder hatte sie mein Theater durchschaut? Ehrlich gesagt war mir das im Moment ziemlich egal, aber ich wusste, dass ich diese ganze Farce nicht ewig durchhalten konnte. Ich musste hier weg.
»Ich laufe nur mal schnell nach oben in mein Zimmer und lege ihn weg. Ich bin gleich wieder da.« Ich verspürte ein unerbittliches Brennen in meinen Augen und rannte nach oben, bevor Mom meine Tränen sehen konnte.
Kapitel 5
as Fenster meines Zimmers ging auf die Straße vor unserem Haus hinaus. Vor meinem vorpubertären Wachstumsschub war es mir noch möglich gewesen, am Fensterbrett zu lehnen, meine Ellenbogen daraufzustützen und mein Kinn auf die Hände zu legen.
An jenem Weihnachtsmorgen war ich dafür schon
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