Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)
das offene Gelände, weg von dem Gebäude, in dem der Prozess stattfand. Im Osten wurde der Himmel schon dunkel, und der leise säuselnde Wind wirbelte Staub auf. In der Ferne hörte man, wie Kinder sich im Spiel etwas zuriefen. Eine Gruppe Frauen tuschelte mit zusammengesteckten Köpfen. Jemand lachte: ein sanftes, überraschend angenehmes Lachen, aus der reinen Freude heraus, sorglos.
»Narraway!«, sprach ihn plötzlich jemand von hinten an.
Er wandte sich um und sah Major Strafford einige Meter hinter sich. Er kam schnell auf ihn zu. Seine Stiefel wirbelten Staub auf.
»Ja, Sir?«, grüßte Narraway korrekt. Auf diese Begegnung hätte Narraway sehr gerne verzichtet, aber Strafford war der Ranghöhere, und er konnte der Situation nicht entkommen.
Strafford hatte ihn eingeholt und blieb stehen. Er fühlte sich sichtlich unbehaglich, und seine Kinnpartie war angespannt. Er würde sich mit Sicherheit nicht abwimmeln lassen.
»Ich beabsichtige, morgen all die Zeugen aufzurufen, die jeden in Kanpur außer Tallis von der Tat ausschließen können.« Er kam direkt zur Sache. »Ziehen Sie den Prozess nicht länger hinaus, als es der Anstand erfordert. Sie können jeden der Zeugen so lange befragen, wie Sie wollen, und ich erkenne an, dass es aussehen soll, als würden Sie den Mann ernsthaft verteidigen. So verlangt es schließlich auch das Gesetz. Aber Sie sind neu hier, übrigens auch relativ neu in Indien. Die Soldaten hier sind durch die Höl le gegangen. Jeder Einzelne hat Gefährten verloren, mit denen er gedient hat, Menschen, mit denen er Seite an Seite gegen den Feind gekämpft hat.« Er schluckte. »Sie wissen vielleicht noch nicht, was das bedeutet …«
Narraway erstarrte. »Ich bin kein Jurist, Sir, ich bin ein Soldat«, erwiderte er scharf. »Auch ich habe – wie alle anderen – an der Front gekämpft. Ich habe Menschen sterben sehen und schlimmer noch, ich habe ihre schrecklichen Wunden gesehen. Ich will nicht ungehorsam erscheinen, Sir, aber Sie haben keinerlei Grund anzunehmen, dass ich lediglich Soldaten im Hinterzimmer eines Militärpostens verteidige. Ich tue das, weil es ein Befehl ist, nicht etwa aus eigenem Willen.«
»Verdammt, Narraway, das ist mir doch auch klar!«, erwiderte Strafford wütend. »Was glauben Sie denn, wer Sie ausgesucht hat? Denken Sie etwa, dass Latimer Ihren Namen von irgendeinem Schreiber, der Meldungen in die Heimat schickt, erfahren hat?«
»Dann sollte er verdammt noch mal auf meine Rangabzeichen achten!«, fauchte Narraway zurück.
Strafford konnte sich ein Lächeln gerade noch verkneifen. »Ist es Ihnen vielleicht lieber zu hören, dass er Sie von keinem der anderen eingezogenen, frisch gelandeten Offiziere unterscheiden kann? Ich hingegen kann das. Zumindest was Ihren Ruf angeht.«
Narraways Mut sank. Erneut kam ihm Straffords Bruder ins Gedächtnis, die ganze Schulzeit, der Spott, der alles andere als gut gemeint war, die heimliche Verachtung des »Strebers«, der sich lieber den Klassikern als dem Sport widmete – außer Kricket. Darin war Narraway dem jüngeren Strafford deutlich überlegen gewesen.
»Haben Sie mich wegen meines mein Rufs Oberst Latimer für Tallis’ Verteidigung empfohlen?«, fragte Narraway verbittert.
Strafford zog die Augenbrauen hoch. »Dachten Sie denn, ich hätte Ihren Namen als Los gezogen? Natürlich habe ich Sie deshalb ausgesucht. Sie sind ein sturer Kerl, und Sie geben sich nicht geschlagen, bevor Sie nicht bis zum Ende vorgedrungen sind. Jeder Mensch, egal wessen er beschuldigt wird, verdient jemanden, der ihn nach bestem Wissen und Gewissen verteidigt. Aber hier und jetzt, in dieser zerstörten Stadt, wo man das Blut noch riechen kann, müssen wir absolut sicher sein, dass wir den Richtigen hängen, und zwar schnell. Kämpfen Sie um ihn, aber wenn Sie geschlagen sind, was morgen der Fall sein wird, müssen Sie aufgeben. Vor allem dürfen Sie Tallis keine falschen Hoffnungen machen. Spielen Sie nicht Katz und Maus mit ihm. Führen Sie das Verfahren zu einem schnellen und sauberen Ende.«
Narraway sah ihn an, suchte seinen Blick. Er sah zwar Abneigung darin, aber keine Unehrlichkeit.
»Sind Sie sich denn ganz sicher, dass Tallis schuldig ist?«
»Ja«, erwiderte Strafford, ohne zu zögern. »Ich habe alle anderen Möglichkeiten geprüft. Es kann nur er gewesen sein. Verdammt noch mal, Narraway, der Kerl ist vielleicht ein aufsässiger Clown, aber er ist einer der besten Sanitäter, die ich jemals gesehen habe. Die
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