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Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Titel: Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Menschen achten ihn. In den letzten paar Jahren hat er wahrscheinlich genauso viele Menschenleben gerettet wie Rawlins selbst. Glauben Sie denn, ich würde ihm das anhängen, wenn es irgendjemand anderer gewesen sein könnte? Ich will die Wahrheit – ich wünschte, sie sähe anders aus –, aber so ist sie nun einmal.«
    »Aber warum nur?« fragte Narraway starrköpfig. »Warum sollte Tallis Dhuleep Singh befreien wollen? Sie kannten sich ja nicht einmal. Wenn doch, hätten Sie bestimmt einen Zeugen aufgerufen, um das zu bestätigen.«
    »Ich weiß es nicht«, gab Strafford zu. Er sah unglücklich aus, war aber nicht irritiert. »Warum begehen Menschen solche verzweifelten und verrückten Taten? Wenn Sie erst einmal ein weiteres Jahr oder zwei hier sind, werden Sie solche Fragen nicht mehr stellen. Wo waren Sie im Sommer? Jedenfalls nicht hier! Sie mussten nicht zusehen, wie Soldaten an Hitzschlag oder Cholera starben, wie sie jeden Tag schwächer wurden, sich die spärlichen Vorräte an Wasser und Lebensmitteln teilten, wie sie die Frauen beschützten, sie verzweifelt zu retten versuchten. Sie saßen nicht zusammengekauert hinter diesem erbärmlichen Erdwall, wo sie außer ein paar Holzplanken und Kisten nichts schützte. Aber man wusste, dass dieser Teufel, Nana Sahib, seine Horden um uns zusammenzog und jeden Tag näher kam.«
    Narraway wollte ihn unterbrechen, traute sich aber nicht.
    »Einige dieser Männer sind wie sonst kaum jemand durch die Hölle gegangen, haben Schlimmeres gesehen als in Albträumen oder im Horror des Wahnsinns. Schauen Sie in ihre Gesichter, Leutnant. Schauen Sie in ihre Augen und fragen Sie mich dann, warum sie verrückte Taten begehen oder vergessen, wer sie sind, warum sie überhaupt hier sind. Stellen Sie sich vor, was Tallis alles gesehen hat. Dann erübrigt sich die Frage, ob er vielleicht verrückt geworden sein könnte und etwas getan hat, das keinerlei Sinn ergibt. Es kann sogar sein, dass er Chuttur Singh für Nana Sahib hielt oder für ein anderes Monster, das Frauen und Kinder umbringt. Vielleicht ist er einfach nur durchgedreht. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass es niemand sonst gewesen sein kann. Glauben Sie mir, ich wünschte, man hätte jemand anderen gefunden. Ich habe versucht, eine andere Antwort zu finden.«
    Narraway kam sich vor, als sei er gestolpert und hingefallen, oder als hätte sich der Boden vor ihm geöffnet und ihn verschlungen. Natürlich konnte man von Menschen, die all dies durchgemacht hatten, nicht erwarten, dass sie bei Verstand blieben so wie diejenigen, die bequem zu Hause sitzen, in einer Welt, die den Gesetzen der Zivilisation gehorcht.
    Tallis’ helle, blaue Augen sahen nun aber nicht wie die eines Verrückten aus. Verzweifelt vielleicht, gelegentlich glänzend vor unbändigem, spöttischem Humor, aber war das Wahn oder ein letzter Sieg der Vernunft? Vielleicht war der einzige Weg zu überleben der, im Augenblick zu leben, zu lachen, wenn man konnte, zu weinen, wenn man musste.
    »Ich sah die Leichen der Männer der Patrouille«, fuhr Strafford fort. Seine Stimme brach fast bei dem Versuch, sie zu kontrollieren. »Auch sie waren grausam zugerichtet. Ich kannte jeden Einzelnen von ihnen. Ich war derjenige, der ihre Ehefrauen benachrichtigen musste. Ich musste lügen. Ich sagte ihnen, dass der Tod schnell gekommen sei, und nicht, dass sie da draußen verblutet sind. Und ich wusste, dass sie niemand je dort holen würde, dass man sie vielleicht nicht einmal finden würde.«
    »Ich habe mit Tierney gesprochen«, sagte Narraway. »Ziemlich lange. Habe ihm von Kent erzählt, wo ich herkomme, und er sprach von seiner Heimat. Sie haben recht, Sir. Ich werde nicht aufgeben, solange noch ein weiterer Schritt möglich ist.«
    Strafford sah grimmig drein. »Mein Bruder hat mir schon gesagt, dass Sie ein Sturkopf sind.«
    »Ja, Sir«, erwiderte Narraway und stand stramm. »Ich denke, Sie wollen umgekehrt meine Meinung über ihn nicht hören, oder?«
    »Nein, verdammt noch mal!« Straffords Gesichtsausdruck lockerte sich ein wenig. »Ich habe meine eigene Meinung über ihn, mit mehr Hintergrundwissen als Sie.«
    Narraway entspannte sich gerade so, dass, wie er hoffte, Strafford es nicht merken würde.
    Strafford starrte ihn einen Augenblick lang an, drehte sich dann um und ging in die andere Richtung fort. Er verschwand in einer Staubwolke, als der Wind heftiger wurde. Über ihm schüttelten sich die Äste, und trockene Samenhülsen fielen auf den

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