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Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Titel: Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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auswendig wie ein Papagei, sondern man merkte, dass er sich jedes Mal das Bild wieder heranholte. Narraway erreichte praktisch nichts.
    Mit Korporal Reilly und dann mit dem Gefreiten Carpenter ging es genauso. Busby fragte jeden nach seinem Aufenthaltsort. Sie gaben alle einen nüchternen Bericht ab, in etwas unterschiedlichen Worten zwar, aber in der Sache übereinstimmend. In jedem Fall konnte der eine für den andern bürgen und bestätigen, dass keiner seinen Standort so lange verlassen hatte, dass er den Gefängnistrakt erreichen und hinein hätte gehen können. Er kam sich vor, als ob er nur Zeit verschwendete, und er bemerkte die zunehmende Ungeduld in den Gesichtern der Anwesenden.
    Tallis sah immer verzweifelter aus, bemühte sich aber, die Fassung nicht zu verlieren und hoffnungsvoll zu erscheinen. Narraway konnte nur ahnen, welche Anstrengung das erforderte.
    Stahl er den anderen nur die Zeit? Zog er die Anspannung und den Schmerz unnötig hinaus?
    Er dachte an das, was Strafford gesagt hatte, über diese schreckliche Flussüberquerung auf brennenden Booten, an die Ertrinkenden und die Toten und an Tallis, der ihnen, ohne den Blick zu wenden, zu Hilfe kam und dabei sein eigenes Leben aufs Spiel setzte. Narraway konnte noch nicht aufgeben, nicht, solange er nicht geschlagen war und nicht mehr weiterwusste.
    Obergefreiter McLeod kam in den Zeugenstand, und Busby befragte auch ihn.
    »Ich bin bereit, Sir«, sagte McLeod ernst. Er war etwa zweiundzwanzig, hatte helle Haut und sah blass aus. Er hatte tief liegende Augen und starrte über Busby hinweg, als ob er etwas anderes sähe, etwas, das unauslöschlich in sein Gedächtnis eingeprägt war.
    Busby fragte ihn ohne Umschweife. »Wo befanden Sie sich genau, Obergefreiter McLeod?«
    »An der Ecke, Sir. Gleich hinter dem fast zerstörten Ge bäude.«
    »Richtung Südwesten, wenn ich mich nicht irre?«
    »Ja, Sir.«
    »Und Sie konnten von dort aus die Tür zum Gefängnis sehen?«
    »Ja, Sir.«
    »Hatten Sie die Tür die ganze Zeit im Blickfeld?«
    »Nein, Sir. Ich achtete auf meine Arbeit.«
    »Und welche Arbeit, Obergefreiter?«
    »Ich reparierte einen Wagen, Sir. Die Deichsel war gebrochen.«
    »Hat Ihnen jemand geholfen?«
    »Ja, Sir. Gefreiter Avery. Für einen allein wär das zu schwer gewesen, spätestens dann, wenn man den Wagen zum Schweißen hochheben muss.«
    »Konnten Sie Korporal Reilly und den Gefreiten Scott bei der Arbeit sehen?«
    »Ja, Sir.«
    »Die ganze Zeit? Sind Sie da sicher?«
    »Sie hätten vielleicht in die andere Richtung gehen können, aber nicht an mir vorbei zum Gefängnis, Sir. Gefreiter Avery oder ich hätten sie sonst bemerkt.«
    »Danke. Bleiben Sie bitte noch, falls Leutnant Narraway noch Fragen hat … welche auch immer.«
    Der Unterton in Busbys Aufforderung hing wahrnehmbar in der Luft. Er machte kein Hehl daraus, dass er die ganze Befragung als sinnlose Zeitvergeudung betrachtete. Sie waren überall von Gefahr umgeben, von Hass, von der bitteren Erkenntnis, dass der Kampf um sie herum andauerte, auch wenn sie nichts davon sehen oder hören konnten. Der ganze Norden Indiens war in Aufruhr. Freunde, Mitkämpfer, Menschen starben für die gemeinsame Sache, die Reste britischer Herrschaft zu retten. Und sie waren hier eingesperrt in diesem winzigen Raum und wütend über Wahrheiten, die sie nur zu gut kannten. Man musste sich den Tatsachen stellen, die bittere Erkenntnis akzeptieren und sich damit auseinandersetzen. Das erforderte Mut: kein Herumreden, kein weiteres Abwägen und Abmessen des bekannten Tatbestands. In gewissem Sinn war es, als ob Geier sich um eine Leiche stritten. Busby hatte das nicht ausdrücklich gesagt, aber des Öfteren mehr als angedeutet.
    Narraway stellte keine Fragen an McLeod. Er hatte Latimers Geduld schon genug auf die Probe gestellt, das war ihm klar.
    Der letzte Zeuge war Gefreiter Avery.
    Busby stand vor ihm und sah ihn geduldig an.
    »Gefreiter, beschreiben Sie uns genau, wo Sie sich zu dem Zeitpunkt befanden, als Chuttur Singh umgebracht wurde. Wir sind das alles schon einmal durchgegangen. Sie brauchen nur das zu wiederholen, was Sie mir damals bereits gesagt haben, damit das Gericht es auch hört.«
    Avery sagte gehorsam aus, als ob er eine rituelle Litanei rezitiere: wo genau er sich befunden hatte, womit er beschäftigt gewesen war. Er schien wie betäubt. Narraway dachte, dass sich der Mann womöglich schuldig vorkam, weil er nichts bemerkt hatte, was Chuttur Singh vielleicht hätte retten

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