Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)
Narraway einen Ausweg gefunden hätte, eine Möglichkeit, den Glauben an Tallis und somit an ihre eigene Menschenkenntnis wiederherzustellen, dann hätte das Strafford am Ende vielleicht gar nicht wütend gemacht. Er hätte sich nicht etwa betrogen gefühlt, sondern wäre dann vielmehr äußerst dankbar gewesen.
Scheiterte er, dann starb nicht nur Tallis, dann scheiterte auch das ganze Regiment – und mit ihm auch Strafford. Es war eine einsame und grausame Angelegenheit, weiterleben zu müssen, ohne den Glauben, auf den man sich einst gestützt hatte, als alles andere unter der Last zerbrach. Der Tod war nicht vorzuziehen, aber es gab Zeiten, etwa in einer schlaflosen Nacht, da schien er fast die bessere Lösung zu sein.
Und da waren noch Frauen und Kinder, die ohne ihre Männer und Väter zurückbleiben mussten – wie die Frau mit den Einkäufen, die er getragen hatte, und deren kleine Tochter, die ihm ihre blaue Papiergirlande geschenkt hatte, zum Weihnachtsfest, das – so hatte ihr Sohn gesagt – für alle da war.
Dann plötzlich schämte er sich, weil er sich so in seine eigenen Gedanken vertieft hatte. Wer auch immer betrogen, zu Unrecht beschuldigt worden war oder jemanden verloren hatte, er selbst jedenfalls war nicht betroffen. Seine Aufgabe war es, zur Klärung beizutragen, für die Gerechtigkeit zu kämpfen, ob das nun Tallis’ Rettung bedeutete oder seinen Tod.
Er lief immer noch ziellos herum. Eigentlich wollte er zu sich nach Hause zurückkehren und den Abend damit verbringen, noch einmal durchzugehen, was er bisher herausbekommen hatte in der Hoffnung, dass etwas Unstimmiges zutage käme, oder ein neuer Tatbestand oder eine andere Schlussfolgerung sich auftun würden.
Als er die Straße entlangging, nahm er jedoch nicht den Weg zu seinem Häuschen, sondern den zu der Witwe mit dem kleinen Mädchen, das ihm die blaue Papiergirlande geschenkt hatte.
Es wurde schon dunkel, und die Nacht brach, wie immer in Indien, sehr schnell herein. Keine Dämmerung im Norden. Bald würde man Licht in den Fenstern sehen. Die Frauen würden das Abendmahl zubereiten. Der angeneh me Geruch von Essen würde die Luft erfüllen. Erst wenn die Kinder im Bett waren, würden sich die Witwen unten in die leeren Räume setzen und sich der langen, einsamen Nacht, den Erinnerungen und dem Verlust stellen.
Helena saß mit einer Puppe im Arm auf den Eingangsstufen und sprach mit ihr. Sie bemerkte, dass er an der Gartentür stand, und blickte auf. Scheu lächelte sie ihn an.
Er blieb stehen und lächelte zurück.
Die Frau kam an die Tür. Er hatte erfahren, dass sie Olivia Barber hieß. Vielleicht hatte sie ihn bereits durchs Fenster gesehen und war herausgekommen, um sicher zu sein, dass mit ihrem Kind alles in Ordnung war.
»Guten Abend, Leutnant«, sagte sie so deutlich, dass er sie, von da, wo er sich befand, gut hören konnte.
»Guten Abend, Madam. Entschuldigen Sie die Störung.«
»Gleich gibt’s Abendessen«, sagte Helena, die Augen immer noch auf ihn geheftet. »Bleibst du zum Essen?«
Er war verlegen, weil es so aussah, als ob er sich einladen wollte.
Olivia legte ihre Hand auf die Schulter des Kinds und zog das Mädchen etwas zurück. »Sie sind herzlich einge laden, Leutnant«, sagte sie leise. »Es tut mir leid, dass Helena so vorwitzig war.«
Jetzt fühlte er sich noch unbeholfener, aber er wollte die Einladung so gerne annehmen. Er sehnte sich nach Behaglichkeit, nach Normalität, er wollte an das Leben, ja auch an Weihnachten denken. Sie würde sicher für ein schönes Fest sorgen, den Kindern zuliebe, ihre eigenen Bedürfnisse würde sie zurückstellen, selbst den Schmerz, den sie erlitten hatte und den niemand ihr anmerken sollte, würde sie wegschieben. Wenn sie Tränen vergießen müsste, dann nur, wenn sie alleine war.
»Sind Sie sicher, dass ich Ihnen keine Umstände mache?«, fragte er zögernd. Wie gerne würde er, mehr als alles andere, ein oder zwei Stunden lang sein Scheitern vergessen.
»Ganz sicher.« Sie öffnete die Tür ein Stück weiter.
Er kam den Weg hoch und ging ins Haus hinein. Helena ließ ihn die ganze Zeit nicht aus den Augen. Es gab ihm einem Stich ins Herz, als er sich fragte, ob sie schon verstehen konnte, dass ihr Vater nie mehr zurückkäme. Oder war sie noch zu klein dafür? Hatte ihre Mutter überhaupt versucht, es ihr zu erklären? Im Haus war es warm und blitz sauber. Es roch nach Essen, frischer Wäsche und nach ei ner Politur. Auf dem Boden lag Spielzeug, nicht
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