Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition)

Titel: Der Weihnachtsverrat: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
können, als ob es seine Schuld wäre, dass er so nahe am Tatort war, ohne den Mord verhindern zu können.
    Als Narraway mit der Befragung an der Reihe war, kam es ihm zu brutal vor, ihn zu bitten, alles zu wiederholen.
    »Gefreiter Avery, überlegen Sie genau, ob Sie nicht etwas vergessen haben. Sie brauchen nicht alles zu wiederholen.«
    »Nichts, Sir. Genau so war es. Tut mir leid, Sir.«
    »Eine Frage noch, die Hauptmann Busby nicht stellte: Kennen Sie Korporal Tallis?«
    Avery wurde noch bleicher. »Ja, Sir.«
    »Woher kennen Sie ihn?«
    »Ich hatte eine Schusswunde am Arm, Sir. Nicht allzu schlimm, aber sie blutete stark. Korporal Tallis hat sie genäht.«
    »Korporal Tallis, nicht Dr. Rawlins?«, fragte Narraway erstaunt.
    »Dr. Rawlins war mit jemandem beschäftigt, der viel schwerer verwundet war als ich, Sir.«
    »Verstehe. Hat Korporal Tallis seine Sache gut gemacht?«
    »Ja, Sir, sehr gut. Ist wirklich gut verheilt. Und …«, er hielt inne und blickte zu Boden. »Es gab eine Menge Blut, Sir. Ich hatte Angst. Er brachte mich zum Lachen, und ich hatte das Gefühl, dass alles wieder gut würde. Es war … das erste Mal, dass ich verletzt wurde, Sir.«
    »Sie kennen Korporal Tallis also?«
    »Ja, Sir.« Avery sah todunglücklich aus, fast als ob er körperliche Schmerzen hätte.
    »Konnten Sie die Tür zum Gefängnis von Ihrem Platz aus sehen?«
    »Ja, Sir.«
    »Haben Sie Korporal Tallis während der Zeit gesehen? Sahen Sie ihn irgendwo in der Nähe des Gefängnisses?«
    »Nein, Sir.«
    »Danke.« Narraway nahm wieder Platz, weil ihm nichts mehr einfiel, das die Sache nicht noch schlimmer gemacht hätte.
    Latimer unterbrach die Verhandlung, und Narraway ging in den späten Nachmittag hinaus. Die Sonne stand tief am Horizont, tauchte den Westen in rot glühendes Licht. Die anbrechende Nacht zeigte sich schon im Osten und breitete ihren Schattenschleier über den Himmel. Es war ihm, als ob die Dunkelheit ihn dicht umgäbe, ihn einhülle und in ihn eindringe.
    Um diese Zeit war es besser, nicht allein zu sein.
    Und doch brauchte er dieses Alleinsein, um sich überhaupt konzentrieren zu können. Nichts hatte ihn weitergebracht. Alle Zeugenaussagen bestätigten, dass außer Tallis niemand durch die Gefängnistür gegangen sein konnte. Und mehr noch, keiner hatte sich irgendwie abfällig über Tallis geäußert. Und eigentlich wollte keiner glauben, dass er schuldig war.
    Straffords Aussage war noch schlimmer als die von Rawlins gewesen. Strafford war ein guter Mensch, der schwere Verluste erlitten hatte und der dennoch weiter seine Pflicht erfüllte, ohne zu erwarten, dass ihm jemand seine schwere Bürde erleichterte. Er hatte sich nicht gewünscht, in Tallis den Schuldigen zu sehen. Tallis’ Tat hatte all sein Vertrauen in ihn zerstört, selbst die Unterstützung, die er ihm persönlich entgegengebracht hatte, war verraten. Noch schlimmer war wahrscheinlich, dass Tallis die anderen Soldaten unter seinem Kommando – die jüngeren und weniger erfahrenen – auch enttäuscht, ja, vielleicht sogar ihren Glauben und ihre Ideale gebrochen hatte.
    Zweifelte Strafford nun an seinem eigenen Urteilsvermögen, weil er sich so getäuscht hatte? Wenn er einem Menschen so vertraut und ihn bewundert hatte, und sich dann in ihm so bitterlich getäuscht sah, konnte er dann überhaupt noch etwas auf sein eigenes Urteil geben? Wenn Tallis schon so grundlegend anders war, als er geglaubt hatte, wie stand es dann um seine Einschätzung der anderen Soldaten?
    Und wenn Strafford mit all seiner Erfahrung falschgelegen hatte, wie konnte Narraway dann um alles in der Welt g lauben, dass er ihn besser einschätzen konnte? Er kannte Tallis ja kaum. Er mochte seinen Humor und bewunderte seinen Mut. Strafford hatte ihn tagein tagaus miterlebt, jahrelang. Er hatte seine Arbeit geschätzt. Beide hatten sie Schreckliches durchgemacht und schließlich den überwältigenden Schmerz des Verlusts der Familie zusammen erlitten, und dennoch war er entschlossen zu akzeptieren, dass Tallis schuldig war. Was hatte ihn das wohl gekostet?
    Er konnte die Beweislage nicht anzweifeln. Keiner hatte gelogen, die Soldaten hatten kein Komplott gegen ihn geschmiedet. Eine andere Antwort, als Tallis’ Schuld zu wünschen, bedeutete, nach etwas zu suchen, das es nicht gab.
    Vielleicht war Strafford gar nicht sarkastisch gewesen, als er sagte, dass er Narraway wegen seiner Sturheit und seiner Intelligenz ausgesucht hatte. Womöglich war es wirklich so, und wenn

Weitere Kostenlose Bücher