Der weite Himmel: Roman (German Edition)
Boden zerstört zu sein. Den Hut hatte sie weit in den Nacken geschoben, das schwarze Haar floß ihr wie ein Wasserfall über den Rücken, und sie hielt sich kerzengerade, doch ihre Augen blickten gehetzt und voller Kummer.
»Was ist denn los?«
Willa rührte sich nicht, zwinkerte nur einmal kurz. Sie drehte noch nicht einmal den Kopf. »Die Polizei war eben hier.«
»Wann?«
»Vor einer Weile.« Willa hatte den Bezug zur Zeit verloren, sie hätte nicht sagen können, wie lange sie schon hier draußen in der Kälte stand.
»Du siehst aus, als würdest du gleich umkippen.« Tess kam die Stufen herauf. »Komm, laß uns hineingehen.«
»Sie haben die Leiche identifiziert.« Willa bewegte sich immer noch nicht. »Das Mädchen hieß Traci Mannerly. Sie war sechzehn Jahre alt und lebte mit ihren Eltern und zwei jüngeren Brüdern in Dodge City. Vor sechs Wochen ist sie von zu Hause ausgerückt, übrigens schon zum zweiten Mal.«
Tess schloß die Augen. Sie hatte weder einen Namen noch Details wissen wollen. Je weniger sie erfuhr, desto leichter konnte sie das Geschehen verarbeiten. »Komm mit ins Haus!«
»Sie war mindestens schon zwölf Stunden tot, als wir sie gefunden haben. Der Täter hat sie irgendwo festgehalten und an Händen und Füßen gefesselt. Der Pathologe fand Fasern eines Seiles an ihrer Haut. Sie muß sich verzweifelt gewehrt haben, denn sie hatte starke Hautabschürfungen an den Gelenken.«
»Das reicht jetzt.«
»Und sie wurde vergewaltigt, mehrfach sogar, und zum Analverkehr gezwungen. Außerdem war sie … sie war im zweiten Monat schwanger. Sie war erst sechzehn Jahre alt, schwanger, und sie kam aus Kansas.«
»Hör auf«, sagte Tess leise. Tränen rannen ihr über das Gesicht, als sie Willa in den Arm nahm.
Eine Weile blieben sie engumschlungen auf der Stelle stehen und wiegten sich schluchzend hin und her. Keiner von beiden wurde bewußt, daß die gegenseitige Abneigung im Moment vergessen zu sein schien. Über ihnen ertönte der Schrei eines Falken. Die Wolken türmten sich am Himmel auf, schoben sich vor die Sonne und kündigten weitere Schneefälle an, doch Willa und Tess rührten sich nicht von der Stelle. Sie waren in einem Netz von Furcht und Trauer gefangen, das sie beide vereinte.
»Was sollen wir jetzt tun?« Tess begann zu zittern. »O Gott, was sollen wir nur tun?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß überhaupt nicht mehr weiter.« Willa machte keinen Versuch, sich loszureißen, obwohl ihr inzwischen klargeworden war, daß sie und Tess sich Halt suchend aneinanderklammerten. »Ich kann die Ranch leiten, trotz allem, was geschehen ist. Aber ich weiß nicht, ob ich es aushalten kann, über dieses Mädchen nachzudenken.«
»Wozu soll das auch gut sein? Wir können über das Motiv nachdenken, können uns fragen, warum er sie gerade hierhergebracht hat. Darüber können wir nachdenken, aber nicht über ihre Person. Und wir sollten an uns denken.« Tess machte sich los und wischte sich energisch die Tränen aus dem Gesicht. »Wir müssen sogar an uns denken. Ich bin nämlich der Meinung, Lily und ich sollten lernen, wie man mit einer Schußwaffe umgeht.«
Willa starrte ihre Schwester einen Moment lang an, und zum ersten Mal bemerkte sie den stählernen Kern hinter der schillernden Hollywoodfassade. »Ich werde es euch beibringen.« Sie holte einmal tief Luft und rückte ihren Hut zurecht. »Wir fangen sofort mit dem Unterricht an.«
»Es ist irgendwie beunruhigend«, bemerkte Ham beim Mittagessen.
Jim füllte sich seinen Teller zum zweiten Mal mit Chili und blinzelte Billy zu. »Was denn, Ham?«
Die Antwort ließ auf sich warten, da in der Ferne Schüsse
zu hören waren. »Eine Frau, die eine Waffe trägt«, sagte Ham schließlich in seiner trockenen, bedächtigen Art. »Noch beunruhigender sind drei bewaffnete Frauen.«
»Um ehrlich zu sein …« Jim tauchte ein Stück Brot in sein Chili und biß ein großes Stück ab, »diese Tess sieht mit einer Flinte über der Schulter unheimlich sexy aus.«
Ham sah ihn mitleidig an. »Junge, du bist mit deiner Arbeit wohl nicht ganz ausgelastet.«
»Nichts auf der Welt kann einen Mann davon abhalten, einer hübschen Frau hinterherzuschauen, stimmt’s, Billy?«
»Stimmt.«
Dabei hatte Billy seit dem Vorfall auf der Silvesterparty mit Frauen nicht mehr viel im Sinn. Gut, mit Mary Anne im Jeep herumzuknutschen war durchaus angenehm gewesen. Die scheußliche Erfahrung jedoch, mit ihr zusammen eine Leiche zu finden, hatte ihm sein
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