Der weite Himmel: Roman (German Edition)
Willa zurück. »Er muß einen Moment allein sein.«
»Ich stand ja auch vor Cooke und hatte mein Gewehr direkt auf ihn gerichtet. Du weißt, daß ich ein besserer Schütze bin als Adam oder sonst jemand auf Mercy, und trotzdem habe ich nichts unternommen. Ich hatte Angst, den Schuß zu riskieren.« Ihre Stimme brach ab, und sie schüttelte ärgerlich den Kopf.
»Was wäre gewesen, wenn du geschossen und sie sich plötzlich bewegt hätte? Dann hättest du vielleicht Lily und nicht ihn getroffen.«
»Oder sie wäre jetzt in Sicherheit. Wenn ich noch einmal vor diese Entscheidung gestellt würde, dann würde ich diesem elenden Hundesohn eins zwischen die Augen verpassen, daß er nie wieder Unheil anrichten kann.« Willa schüttelte das aufkeimende Schuldgefühl ab. »Darüber nachzugrübeln, was man hätte anders machen können, hilft uns jetzt auch nicht weiter. Ich halte es für möglich, daß er zu der Hütte will, die Richtung stimmt. Er meint wohl, er kann dort erst einmal unterkriechen.«
Willa schwang sich wieder auf ihr Pferd. »Diesmal hat sie sich gegen ihn zur Wehr gesetzt, Adam. Vielleicht wäre es gescheiter gewesen davonzulaufen.«
Lily wäre geflohen, wenn sie die Kraft dazu gehabt hätte. Sie fror zwar entsetzlich, und ihr Hemd war völlig durchnäßt, dennoch hätte sie die Chance ergriffen, sich den Schnee und
den Schutz der Berge zunutze zu machen, wenn sie die Möglichkeit zu einem Fluchtversuch bekommen hätte.
Er hatte die Waffe wieder weggesteckt, aber seine Strategie geändert, nachdem sie mit dem Jeep vor einen Baum gefahren war. Sie hatte absichtlich darauf zugehalten, in der Hoffnung, der Zusammenstoß würde ihn schwer genug verletzen oder zumindest so erschrecken, daß sie einen Vorsprung herausschinden konnte. Doch der Unfall hatte ihr nur eine so heftige Ohrfeige eingetragen, daß sie kopfüber im Schnee gelandet war. Danach hatte er ihr die Hände gefesselt und sich den Strick um die Hüfte gebunden, so daß sie gezwungen war, wie ein Hund an der Leine hinter ihm herzutrotten. Anfangs war sie mit Absicht häufig gestolpert oder hatte sich fallen lassen, um ihn nach Kräften zu behindern, doch er hatte sie immer wieder brutal hochgerissen.
Der Schnee fiel immer stärker. Je höher sie kamen, desto tückischer wurde das Schneegestöber, Donner krachte über ihren Köpfen, gefolgt von gespenstisch zischenden Blitzen, die über den schwarzen Himmel zuckten. Der Wind blies ihr mit solcher Macht ins Gesicht, daß sie die Verwünschungen, die Jesse gegen sie ausstieß, kaum verstehen konnte. Die ganze Welt war weiß – ein wirbelndes, tosendes Weiß.
Jesse trug einen Rucksack über der Schulter. Lily fragte sich benommen, ob darin wohl ein Messer war – und was Jesse eigentlich mit ihr vorhaben mochte.
Die Kälte hatte an ihren Kraftreserven gezerrt, war ihr so stark in die Knochen gefahren, daß sie meinte, ihre Beine müßten bei jedem weiteren Schritt unter ihr wegknicken. Die Vorstellung, sich gegen ihn zu wehren, war in weite Ferne gerückt, Flucht nur noch eine vage Hoffnung. Wohin sollte sie auch flüchten, wenn sie um sich herum nur einen undurchdringlichen Vorhang von Schnee sah?
Nun galt es, wenigstens das nackte Leben zu erhalten.
»Diese Idioten dachten schon, jetzt hätten sie mich, nicht wahr?« Jesse zog mit einem Ruck an dem Seil, so daß Lily gegen ihn taumelte. Obwohl er den Kragen seiner Schaffelljakke hochgeschlagen hatte, rieselte der feuchte Schnee hinein und rann kalt an seinem Hals hinunter. Gereizt fuhr er fort:
»Dein Pferdescheißeschaufler und diese Halbblutschlampe, die du als deine Schwester bezeichnest, haben sich doch tatsächlich eingebildet, sie würden so ohne weiteres mit mir fertig. Aber ich pflege zu bekommen, was ich mir in den Kopf gesetzt habe.« Grob quetschte er ihre Brust. »So war es schon immer, und so wird es auch immer bleiben.«
»Dir liegt doch gar nichts an mir, Jesse.«
»Du bist meine Frau, nicht wahr? Hast gelobt, mich zu lieben, zu ehren und mir zu gehorchen, bis daß der Tod uns scheidet.« Um seine Macht über sie zu demonstrieren, stieß er sie mit aller Kraft in den Schnee. »Sie werden uns folgen, aber sie wissen nicht, mit wem sie es zu tun haben, oder, Lily? Mit einem Marine sollte man sich lieber nicht anlegen.«
Er würde sich durch den Schnee kämpfen wie damals während der Grundausbildung, durch Schlamm und Matsch, dachte er. Ein Mann seines Formats kam überall durch und stand noch aufrecht, wenn alle
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