Der weite Himmel: Roman (German Edition)
Wasserlauf ritten.
»Ich möchte es aber. Für dich.« Sie hielt an, um Moon trinken zu lassen. »Und für sie. Ich weiß, daß ich ihr Grab nicht sehr oft besucht habe. Ich habe jedesmal eine andere Ausrede gefunden.«
»Du mußt doch nicht das Grab unserer Mutter besuchen, um dich an sie zu erinnern.«
»Genau da liegt das Problem, nicht wahr? Ich kann mich überhaupt nicht an sie erinnern. Alles, was ich von ihr weiß, hast du mir erzählt.«
Sie legte den Kopf zurück. Es war ein wunderbarer Nachmittag, und sie fühlte sich angenehm erschöpft nach leichter körperlicher Arbeit. Nur ihre Schultern schmerzten ein wenig vom Stacheldrahtspannen und dem Einschlagen von Zaunpfählen.
»Ich bin deshalb so selten gekommen, weil es mir irgendwie widernatürlich erschien. Da steht man dann da, schaut auf ein Stück Erde und einen Stein hinunter und hat keine Erinnerungen an den Menschen, der dort begraben liegt; nichts, woran man sich klammern kann.« Willa blickte einem Vogel nach, der sich von der leichten Brise tragen ließ. »Doch seit einiger Zeit denke ich anders darüber. Es begann, als ich Lily und Tess mit ihren Müttern gesehen habe und als ich erfuhr, daß Lily ein Baby erwartet. Ich habe über Kontinuität nachgedacht.«
Sie wandte sich ihm zu. Ihr Gesicht war völlig entspannt. »Die einzige Kontinuität, die bislang für mich zählte, war der Wechsel der Jahreszeiten und die Arbeit, die jede einzelne
mit sich brachte. Wenn ich an das Gestern oder das Morgen dachte, dann nur im Zusammenhang mit der Ranch.«
»Die Ranch ist dein Heim, Willa. Dein Herzblut steckt darin.«
»Ja, und das wird auch immer so bleiben. Aber ich fange langsam an, mir auch über die Menschen Gedanken zu machen, was ich eigentlich nie richtig getan habe – außer wenn es um dich ging.« Sie streckte eine Hand aus und legte sie über seine. »Du warst immer für mich da, seit ich denken kann. Alle meine Erinnerungen drehen sich um dich. Du hast mich auf den Schultern getragen, mir Geschichten erzählt und dich immer um mich gekümmert.«
»Du warst immer eine Freude für mich und wirst es auch immer sein.«
»Ich bin sicher, daß du einen wundervollen Vater abgeben wirst.« Ein letztes Mal drückte sie seine Hand, dann trieb sie Moon wieder an. »Ich habe nachgedacht. Es ist nicht nur das Land, was fortbesteht und dem wir alles verdanken. Ich verdanke meiner Mutter mein Leben, dein Leben und auch das meines Neffen oder meiner Nichte.«
Adam schwieg einen Moment, dann sagte er: »Es ist nicht nur sie, der du das alles verdankst.«
»Nein, das ist richtig.« Adam verstand sie, dachte Willa. Wie immer. »Auch Jack Mercy habe ich einiges zu verdanken. Mein Zorn auf ihn ist verraucht. Mein Kummer übrigens auch. Ich verdanke ihm mein Leben, das Leben meiner Schwestern und somit auch die Existenz meines Neffen oder meiner Nichte. Dessen bin ich mir inzwischen bewußt. Und vielleicht verdanke ich es ihm in gewisser Hinsicht auch, daß ich so geworden bin, wie ich bin. Wäre er ein anderer Mensch gewesen, dann könnte auch ich heute anders sein.«
»Und wie denkst du über die Zukunft? Über deine Zukunft, Will?«
Im Zusammenhang mit der Zukunft konnte Willa nur an die Jahreszeiten denken, an die Arbeit und an das endlose Land, das ihren ganzen Lebensinhalt bildete. »Ich weiß es nicht.«
»Warum sagst du Ben nicht, was du für ihn empfindest?«
Sie seufzte und wünschte wieder einmal, es gäbe einen Winkel ihres Herzens, der ihm verschlossen bliebe. »Ich bin mir über meine Gefühle noch nicht im klaren.«
»Du brauchst dir über gar nichts mehr klarzuwerden. Er sich übrigens auch nicht.«
Was, zum Teufel, sollte das denn nun wieder heißen? Mit gefurchter Stirn galoppierte sie hinter ihm her. »Hör doch bitte auf, in Rätseln zu sprechen, Adam. Vergiß bitte nicht, daß ich nur eine halbe Blackfoot bin. Wenn du also etwas zu sagen hast …«
Sie brach ab, als er eine Hand hob. Ohne eine Frage zu stellen, lenkte sie Moon an seine Seite und folgte seinem Blick hinüber zu den leicht geneigten Grabsteinen des Friedhofes. Auch sie konnte es jetzt riechen: Tod. Doch mit diesem Geruch war hier zu rechnen; ein weiterer Grund, warum sie so ungern herkam.
Doch dann wußte sie plötzlich, was geschehen war; wußte es, noch ehe sie es mit eigenen Augen gesehen hatte. Der Geruch, den sie wahrgenommen hatte, war der von frisch vergossenem Blut.
Schweigend ritten sie langsam weiter und stiegen ab, als sie bei den Grabsteinen
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