Der weite Himmel: Roman (German Edition)
und auch er würde sich daran gewöhnen müssen. Absolut lächerlich, diese Flause von ihm, daß sie sich hier in Montana niederlassen, heiraten und eine Familie gründen sollte. Ihr Leben und ihre Karriere waren untrennbar mit Los Angeles verbunden. Sie hatte viele ehrgeizige Pläne. In einigen Wochen würde sie ihren einunddreißigsten Geburtstag feiern, und sie hatte nicht vor, in dieser Phase ihres Lebens all ihre Träume und Hoffnungen aufzugeben, um die Frau eines Ranchers zu werden.
Oder die Frau von irgend jemand anderem.
Da sie ihre Zigaretten vergessen hatte, riß sie auf der Suche nach Ersatzbefriedigung die Küchentür auf.
»Du hast deinen Anteil an der Eiscreme schon verputzt.«
Tess schnitt Bess hinter deren Rücken eine Grimasse.
»Deswegen bin ich gar nicht gekommen.« Obwohl sie eine Portion Eis nicht gerade verachtet hätte. Statt dessen ging sie zum Kühlschrank und nahm einen Krug mit Limonade heraus.
»Warst du wieder nackt schwimmen?«
»Richtig. Es ist einfach herrlich. Du solltest es auch einmal versuchen.«
Bei dieser Vorstellung rümpfte Bess abfällig die Nase.
»Stell das Glas in die Spülmaschine, wenn du ausgetrunken hast. Die Küche ist schon sauber.«
»Mach ich.« Tess ließ sich auf einen Stuhl fallen und betrachtete den Katalog, den Bess durchblätterte. »Kleiner Einkaufsbummel vom Küchentisch aus?«
»Ich überlege, ob Lily dieser Kinderwagen wohl gefallen würde. Euer Wagen wurde nach Willas Geburt fortgegeben. Er wollte ihn nicht mehr sehen.«
»Ach ja?« Der Gedanke, daß sie, Lily und Willa einen Kinderwagen geteilt haben könnten, war Tess noch nie gekommen. »Ich finde ihn ganz entzückend.« Interessiert zog sie den Stuhl näher heran. »Sieh mal, er hat Rüschen am Verdeck.«
Bess warf ihr einen Blick zu. »Ich kaufe den Kinderwagen.«
»Schon gut, schon gut. Oh, da ist ja auch eine Wiege. Sie hätte doch bestimmt gerne eine Wiege, um das Kleine zu schaukeln.«
»Ich denke schon.«
»Komm, wir legen eine Liste an.«
Bess hatte einen liebevollen Ausdruck in den Augen, als sie einen Block hervorzog, den sie unter dem Katalog versteckt hatte. »Hab’ schon damit angefangen.«
Gemeinsam studierten die beiden Frauen die Angebote. Es machte ihnen Spaß, und sie erwogen kurz die Vor- und Nachteile verschiedener Sportwagen. Tess erhob sich
schließlich, um ihnen Limonade nachzuschenken. Sie blickte mißtrauisch zur Küchentür, als sie draußen Schritte hörte.
»Ich erwarte niemanden mehr«, flüsterte sie und faßte sich nervös an den Hals.
»Ich auch nicht.« Ungerührt holte Bess ihre Pistole aus der Schürzentasche, stand auf und behielt die Tür im Auge. »Wer ist da?« Beim Anblick des gegen die Scheibe gepreßten Gesichtes mußte sie lachen. »Lieber Gott, Ham, ich hätte dir fast eine Kugel verpaßt. Du solltest zu nachtschlafender Zeit nicht mehr ums Haus schleichen.«
Sie öffnete die Tür, und er fiel der Länge nach in die Küche, direkt vor ihre Füße. Bess ließ die Pistole auf den Boden fallen, und Tess bückte sich zu dem reglosen Körper. Dann legte Bess Hams Kopf in ihren Schoß. »Er blutet stark. Rasch, hol ein paar Handtücher und drücke sie ganz fest auf die Wunde.«
»Bess …«
»Ruhig jetzt! Laß mich mal sehen, wie schlimm es um ihn steht.«
Tess zog Hams Hemd beiseite und preßte die handtuchumwickelte Hand so fest wie möglich auf die klaffende Wunde. »Ruf den Notarzt! Einen Rettungshubschrauber! Er braucht schnell Hilfe!«
»Warte.« Ham tastete nach Bess’ Hand. »Er hat …« Er rang nach Atem, bis er endlich die Kraft zum Weitersprechen fand. »Er hat sie in seiner Gewalt, Bessie. Er hat unsere Will.«
»Wie bitte?« In dem Bemühen, ihn besser zu verstehen, brachte Tess ihr Ohr ganz nah an seinen Mund. »Wer hat Willa?«
Doch er hatte schon wieder das Bewußtsein verloren. Tess hob den Kopf und sah Bess an. In ihren Augen stand plötzlich nackte Furcht. »Ruf die Polizei. Beeil dich!«
Jetzt konnte er mit gutem Gewissen Rast machen. Er hatte einen Kreis beschrieben, war auf seinen eigenen Spuren zurückgeritten, dann ein Stück durch einen Bach und danach über Felsgestein bergan gestiegen. Ihm blieb keine andere Wahl, als die Pferde festzubinden, aber er behielt sie in seiner Nähe.
Willa beobachtete jede seiner Bewegungen. Sie kannte sich in den Bergen aus, und er würde ihre Spur nicht leicht verfolgen können, auch nicht, wenn sie zu Fuß flüchten mußte. Wenn sich nur eine Gelegenheit dazu ergeben
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