Der weite Himmel: Roman (German Edition)
aus dem Sattel kletterte. Außerdem entwickelte sie eine zaghafte Zuneigung zu Mazie, der Stute, die Adam ihr zugeteilt hatte. Trotzdem entsprach ein Ausritt bei Wind und Kälte nicht unbedingt ihrer Vorstellung von angenehmer Freizeitgestaltung.
»Ach du lieber Himmel!« Tess trat, in eine dicke Wolljacke gemummelt, ins Freie und wünschte augenblicklich, sie hätte zwei Garnituren langer Unterwäsche übereinandergezogen. »Ich komme mir vor, als würde ich Glassplitter einatmen. Wer kann denn so etwas aushalten?«
»Adam sagt, daß man dann den Frühling um so mehr zu schätzen weiß.«
Um sich gegen den beißenden Wind zu schützen, schlang Lily ihren Schal etwas fester um den Hals. Sie liebte den Winter, den majestätischen Anblick der schneebedeckten Berge. Die Bäume am Fuß der Berge wirkten unter ihrer weißen Last wie ein verwunschener Märchenwald, und die silbern glänzenden Felsen bildeten seltsame surrealistische Formationen.
»Ist das nicht wunderschön? Meilenweit nichts als Weiß, Und der Himmel leuchtet so blau, daß es fast in den Augen weh tut.« Sie lächelte Tess an. »Kein Vergleich zum Schnee in der Stadt.«
»Ich hab’ nicht allzuviel Erfahrung mit Schnee, aber ich würde sagen, daß sich das hier mit nichts anderem vergleichen
läßt.« Tess bewegte die klammen Finger in ihren Handschuhen, während sie zum Pferdestall hinübergingen.
Zumindest war das Gelände der Ranch noch begehbar, dachte sie. Die Wege zu und von den Koppeln und Korralen waren geräumt worden, ebenso die Straßen. Dafür hatte man einen Schneepflug vor einen allradgetriebenen Wagen gespannt. Der junge Billy hatte diese Aufgabe übernommen und dabei offensichtlich einen Heidenspaß gehabt.
Tess bemerkte, daß ihr Atem in der kalten Luft kleine Wölkchen bildete, und sie war versucht, sich erneut zu beklagen. Doch trotz der Kälte war es ein wunderbarer Tag, das mußte sogar sie zugeben. Der Himmel erstrahlte in einem so harten, spröden Blau, daß sie meinte, er müsse jeden Augenblick Sprünge bekommen, und die Berge hoben sich glasklar davon ab. Sonnenstrahlen fielen auf den Schnee, auf dessen Oberfläche winzige Kristalle wie Diamanten funkelten, und ab und zu wirbelte ein Windstoß hindurch und ließ silbrigen Glimmer in der Luft tanzen.
Palmen, Strände und Mai Tais schienen Lichtjahre entfernt.
»Was treibt sie denn heute so?« Tess holte eine Sonnenbrille aus der Tasche und setzte sie auf.
»Willa? Sie ist heute morgen mit einem der Pritschenwagen weggefahren.«
Tess’ Mund wurde schmal. »Allein?«
»Sie fährt fast immer allein.«
»Sie fordert das Schicksal heraus«, murmelte Tess und steckte die Hände in die Taschen. »Hält sie sich eigentlich für unbesiegbar? Wenn sich nun derjenige, der diesen Mann umgebracht hat, noch immer in der Gegend aufhält …«
»Hältst du das wirklich für möglich?« Nervös ließ Lily den Blick über die Felder schweifen, als ob plötzlich ein irrsinniger Killer aus dem Nichts auftauchen und beilschwingend auf sie losgehen könnte. »Die Polizei hat doch nicht die geringste Spur. Es könnte doch jemand gewesen sein, der in den Bergen kampiert hat. Bei diesem Wetter wird er ja wohl schwerlich noch dort hausen. Außerdem ist es schon Wochen her.«
»Sicher, da hast du recht.« Tess war zwar alles andere als überzeugt, sah jedoch keinen Grund, die ohnehin schon übernervöse Lily noch mehr zu beunruhigen. »Niemand würde bei dieser Kälte hier draußen übernachten, noch nicht einmal ein umherziehender Wahnsinniger. Ich glaube, es liegt einfach nur daran, daß sie mir so auf die Nerven geht.« Sie kniff die Augen zusammen, als sich ein Jeep aus westlicher Richtung der Ranch näherte. »Wenn man vom Teufel spricht …«
»Vielleicht solltest du …« Lily brach den Satz kopfschüttelnd ab.
»Nein, sprich weiter. Was sollte ich?«
»Vielleicht solltest du aufhören, sie dauernd absichtlich zu ärgern.«
»Ach, das fällt mir nicht schwer.« Tess schmunzelte vor Vorfreude. »Nur leider prallt es meistens wirkungslos an ihr ab.« Sie blieb stehen, als der Jeep bei ihnen ankam. »Na, hast du deine Rindviecher gezählt?« fragte sie spöttisch, als Willa das Fenster herunterkurbelte.
»Du bist ja immer noch da. Ich dachte, du wärst längst in Big Sky und würdest dich im Jacuzzi aalen oder auf Männerfang gehen.«
»Ich spiele mit dem Gedanken, ja.«
Willa wandte ihre Aufmerksamkeit Lily zu. »Wenn Adam mit dir ausreiten will, dann macht euch möglichst
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