Der Welt den Ruecken - Erzaehlungen
diktieren und dann, wie damals, schneidend ausrufen: »Was, numeriert schreiben Sie mit zwei m? Und so was will zum Sender.« Heute würde sie wahrscheinlich noch spöttisch hinzufügen: »Nach der Rechtschreibreform mag das leider Gottes zulässig sein, verkehrt ist es allemal.« Reformen waren nichts, was Waltraud Grunert je geschätzt hätte.
Der ehemalige Kinderfunkredakteur saß wie versteinert da und blickte finster zu Boden. Er war Jude und hatte damals nur so gerade eben ein KZ überlebt, und Waltraud Grunert hatte nie einen Hehl aus ihrer herrlichen Zeit als BDM-Mädel gemacht. »Alte Nazisse«, hatte er immer verächtlich über sie gesagt und war ihr aus dem Weg gegangen. Und heute, am Geburtstag des Senders, erwischte es ihn doch noch und er saß mit ihr unter dem Schild »Wie alles anfing«. Dabei gab es selbst am Geburtstag ihres gemeinsamen Senders nichts, worüber diese beiden Menschen miteinander hätten reden können. Er schien zu überlegen, ob er vielleicht erzählen sollte, wie Waltraud Grunerts Mann, auch einmal Kinderfunkredakteur, aber vor seiner Zeit und in einem andern Sender, seine Sendungen immer mit »Heil Hitler, liebe Kinder!« begonnen hatte?
Die ehemalige und allererste Fernsehansagerin wurde gerade geschminkt, was nicht einfach war, denn seit sie nicht mehr ansagen durfte, trank sie sehr viel vom guten Wein des Sendegebiets und hatte entsprechende Pölsterchen, geplatzte Äderchen und aufgequollene Augen in Kauf zu nehmen. »Kinder, daß ich noch mal geschminkt werde!« rief sie, und die Maskenbildnerin seufzte: »Stillhalten, Renate, sonst krieg ich’s gar nicht hin.« Denn Renate Seibel sollte nicht nur mitdiskutieren zum Thema »Wie alles anfing«, sondern auch die Originalnachrichten von damals noch einmal lesen, vor der Kamera.
Die Kulturecke war in Studio drei aufgebaut. Auf einem gezimmerten und mit schwarzem Leinen bezogenen Podest standen drei schwarze Ledersessel, davor drei kleine schwarze Tischchen mit drei Mikrofonen, drei Wassergläsern und drei Flaschen Mineralwasser. Hier sollten Dr. Gauselmann, Albrecht Donner und Klara Zander sitzen und um 12.30 Uhr, Mikrofone in den Händen, über Bücher und das Lesen reden und das Publikum möglichst mit einbeziehen. Im selben Studio war ein Wohnzimmer im Stil der 50er Jahre eingerichtet, dort sollte Werbung für eine Serie über die 50er Jahre gesendet werden, daneben fand die »Operation Fernsonde« statt – die Wissenschaftsredaktion demonstrierte das Operieren am offenen Kopf per Computer, jeder durfte mitmachen, und auf einem Lastwagen saß eine irische Band und fiedelte mit lauten Verstärkern irische Folklore.
»Wir sind noch nicht dran«, sagte die Kulturredakteurin beruhigend, »ihr könnt noch ein bißchen rumgucken.«
Inzwischen war das Publikum eingelassen worden und strömte durch die Gänge, in kurzen Hosen und bequemen Tretern, mit Plastiktüten ausgestattet, um Aufkleber, Broschüren, Autogrammkarten und kleine Werbegeschenke seines »Senders zum Anfassen« einsammeln zu können. In Studio eins wurden die Nachrichten vorbereitet. »Jedermann kann Nachrichten herstellen! Kommen Sie und machen Sie Ihre eigenen Nachrichten, unsere Nachrichtensprecherin hilft Ihnen dabei!« rief ein Volontär und scheuchte vom Gang aus das Publikum ins Studio, das, so war sich der enttäuscht dreinblickende ehemalige politische Redakteur sicher, viel lieber zum Schilfgras gegangen wäre.
Die Nachrichtensprecherin war jetzt stark geschminkt, und ihr Haar hatte man mit einer Art Drei-Wetter-Flüssigzement zur Haube gefönt. Auf den Monitoren, die den ganzen Raum füllten, sah sie großartig und wie aus Marzipan gemeißelt aus. Hausfrauen aus dem Sendegebiet schnitten daneben mit bläulich verfärbten Nasen und mißlungenen Dauerwellen schlecht ab, aber das ist eben Fernsehen, und das Fernsehen versteht nicht einmal an seinem Geburtstag einen Spaß.
Freiwillige wurden aufgerufen, die bereit waren, von einem Zettel die Nachrichten abzulesen. Ein älterer Mann meldete sich, große schwarze Schweißflecken unter den kurzen Ärmeln seines grünen Hemdes. Er wischte sich mit einem Stofftaschentuch den Schweiß von der Stirn und wurde von einer Maskenbildnerin mit Puder eingestäubt, während ihm ein Assistent ein Mikrofon ansteckte. »Puder? I bin doch koi Mädle«, sagte er, und das Mikrofon trug seine Worte durch die Halle. Die Menge klatschte begeistert.
»Wie heißen Sie?« fragte die Nachrichtensprecherin freundlich, und er
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