Der Weltensammler: Roman (German Edition)
erreiche, der finde keinen Platz in der Nähe, um sein Zelt aufzuschlagen. Die vielen toten Tiere am Wegrand waren nicht zu übersehen. Unzählige Kadaver waren einfach in die Gräben geworfen worden. Die Beduinen in ihrer Gruppe schoben sich Baumwollstücke in die Nasenlöcher, andere hielten sich Handtücher dicht über Mund und Nase. Sie erreichten Arafah, ein Hügel in den Atlanten, ein gewaltiger Berg der Metaphysik. Die Öde, die ihn umschlang, war aufgekratzt von den vielen Pilgern. Sie errichteten ihre Zelte am Fuße des Hügels und überließen sich jenen halbstummen Zwiegesprächen, die sie aus diesem Tag herausführen würden. Manche Pilger murmelten, andere bewegten still ihre Lippen. Gewiß listeten ihre Gedanken jede Schwäche und jeden Fehler auf, gewiß korrigierten sie diesen persönlichen Mängelkatalog, erweiterten ihn um einige Nachzügler im Bekenntnis. Erschraken sie über das Angesammelte? Waren sie um Aufrichtigkeit bemüht? So sehr, daß sie die Liste ihrer Vorsätze kürzten, um nicht etwas zu versprechen, aufrecht vor Gott, dem sie nicht gewachsen waren, an diesem Tag der ungeschönten Bilanz.
Eine Kanone platzte in die massenhafte Einkehr hinein. Sie kündigte das Nachmittagsgebet an. Schon hörten sie Trommeln und gleißende Klänge. Komm mit, rief Mohammed, die Prozession des Sharifs trifft ein. Sie drängten sich vor, bis sie die Prozession erblickten, wie sie einen Pfad erklomm, der den Berg hinaufführte. Angeführt von einer Kapelle aus Janitscharen, denen die Träger des Amtsstabes folgten, die gereizt den Weg freiräumten. Ihnen folgten mehrere Reiter, ein jeder von ihnen hielt einen überlangen, mit Quasten versehenen Speer in der Hand, mit dem sie die Zuchtpferde des Sharifs antrieben, vollblütige Araber mit alten und abgenutzten Schabracken. Hinter den Pferden gingen schwarze Sklaven mit Luntenmusketen, offensichtlich in Begleitung der grünen und roten Flaggen in ihrem Windschatten, zum Schutz der hohen Herren, des Sharifs von Mekka samt Höflingen und Familie. Mohammed konnte jeden in dieser erlauchten Gruppe identifizieren. Der Sharif erwies sich als alter Mann, ein Asket von ziemlich dunkler Hautfarbe, was er seiner Mutter, einer Sklavin aus dem Sudan, verdanke – Mohammed schien über die Familienverhältnisse bestens informiert zu sein. Er sieht nicht nach viel aus, aber keiner kann es mit ihm an Schlauheit aufnehmen, sagte er voller Bewunderung. An der Seite des Sharifs, dessen verharrende Augen auf einmal über die Menge huschten wie ein Skorpion über den Sand, schritt ein Mann, der ihn um einen Kopf überragte und dessen grobschlächtige Figur von seinem Ihram kaum bedeckt wurde. Sein modisches kleines Bärtchen stand im Gegensatz zum vollen Bart des Sharifs. Das ist der türkische Gouverneur, sagte Mohammed. Keiner mag ihn. Und ich glaube, er will es so haben. Im Gegensatz zum Sharif schien der Gouverneur die versammelten Menschen zu ignorieren. Einige Schritte hinter diesen beiden hielt sich ein jüngerer Mann mit rundlichem Gesicht und weichen Gesichtszügen, deren Weiblichkeit von seinem ungleichmäßig wachsenden Bart betont wurde. Als einziger in der Gruppe schien er in sich selbst versunken, Teil der Prozession und ihr doch enthoben. Über ihn wußte Mohammed nichts zu sagen, außer daß es sich um den Kadi handelte, Protegé des wohl mächtigsten Alim in der jüngsten Vergangenheit der Stadt und daher schon in jungen Jahren zu Ehren gelangt, die das Schicksal überflügelten. DieProzession wurde geschluckt von der dichten Menschenmenge, hinter der das Granitgestein von Arafah als karge Erinnerung an den Anlaß aufragte. Die Pilger kletterten die Flanken des Hügels hinauf. Plötzlich trat eine völlige Stille ein, das Zeichen, daß die Predigt begonnen hatte, doch ihr Gehalt drang nicht bis dort vor, wo sie standen. Sheikh Abdullah sah einen alten Mann auf einem Dromedar, der gelegentlich seine Hände zur Unterstützung seiner Worte benutzte. Die Predigt habe, so erfuhr er später, wie jedes Jahr Adam und Hauwa ins Gedächtnis gerufen, die Tränen, die Adam an diesem Ort in einem monatelang dauerndem Gebet vergossen hatte, bis ein Teich entstanden war, an dessen süßem Wasser die Vögel sich gelabt hatten. Teile der Rede wurden hervorgehoben durch die Rufe der aufrecht stehenden Pilger, durch ihre Amins und Labbayks, die zuerst einzeln, leise und bedächtig erklangen, um sich in Lautstärke und Intensität zu steigern, bis sie selbst jene mitzogen, die von
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