Der Weltensammler: Roman (German Edition)
der Rede weit entfernt waren. Schließlich waren alle, die Sheikh Abdullah umgaben, den Tränen nahe – Mohammed versenkte das Gesicht in ein weißes Tuch –, und viele schluchzten, obwohl keiner von ihnen ein einziges Wort verstanden hatte. Der emotionale Gehalt der Predigt war allen vertraut. Was als Strohfeuer begonnen hatte, wuchs sich zu einer Feuersbrunst aus. Je rötlicher der späte Nachmittag wurde, um so mehr verdichtete sich das Flehen der Pilger. Sie beteten um Vergebung, um Gottesfurcht, um einen leichten Tod, um eine positive Bilanz am Tag des Gerichts, um die Erfüllung ihrer Gebete im Leben. Kaum einer der vielen stand in dieser Stunde außerhalb des Gebetes.
Mit dem Sonnenuntergang erklangen die Glückwünsche … Id kum Mubarak … Id kum Mubarak . Die Hadj war mit dem Ende dieses Tages erfüllt. Die Sünden waren vergeben, die Pilger waren neugeborene Kinder, und sie durften sich von nun an Hadjis nennen. Sheikh Abdullah umarmte Saad, Mohammed und seinen Onkel. Er fühlte einen reinen Stolz, an dem er sich ohne Hintergedanken berauschte. Alle wirkten ausgelassen und schienen zu schweben. Schon zogen die ersten Pilger ab. Jeder räumte hastig zusammen, warf die notdürftig zusammengeschnürten Zelte auf die Lasttiere und schlug auf sie ein. Wir nennen es das Rennen von Arafah! Mohammed gefiel sich in der Rolle des abgeklärten Kommentators. Die Pilgerrannten den Hügel hinab mit schwungvollen Schreien. Ich stehe vor dir, Gott, ich stehe vor dir. Obwohl alle in ihrer Gruppe mithalfen, waren ihre Dromedare erst nach Einbruch der Dunkelheit abmarschbereit. Alles strömte zur Straße nach Mina. Die Erde war gespickt mit zurückgelassenen Zeltpflöcken. Sheikh Abdullah sah, wie im Gedränge eine Sänfte zerdrückt wurde, wie einige Fußgänger unter die Hufe gerieten, wie ein Dromedar zusammenknickte, wie sich Pilger mit Stockhieben gegen andere Pilger wehrten, er hörte Stimmen, die nach einem Tier suchten oder nach Frau und Kind. Die Pilger drängten sich durch das Tal, das in der einfallenden Nacht enger und tiefer wirkte, sie erreichten den Hohlweg, der al-Mazumain genannt wurde, markiert von unzähligen Fackeln, die so heftig brannten, als würden sie von der Erregung der Masse genährt werden. Die Feuerfunken flogen weit über die Ebene hinweg wie irdische Sternschnuppen. Die Artillerie feuerte eine Salve nach der anderen ab, Soldaten ließen ihre Flinten feiern, und die Kapelle des Paschas spielte auf, irgendwo tief hinter ihrem Rücken. Raketen stiegen auf, von der Prozession des Sharifs abgeschossen, wie Mohammed eifrig berichtete, aber auch von begüterten Pilgern, die dem Himmel mitteilen wollten, daß sie Hadjis waren, und vielleicht war die Botschaft der Explosion zu sehen in den Orten ihrer Herkunft. Der Trab der Tiere war schnell, es gab ebenso viele Gründe für die Eile wie für das ohrenbetäubende Geschrei, mit dem die Menge durch den Paß von Mazumain nach Muzdalifa und Mina einzog. Sie mußten keine zwei Stunden reiten, bis sie ein völlig ungeordnetes Lager erreichten. Jeder ließ sich auf dem nächstbesten Fleck nieder. Es wurden keine Zelte aufgeschlagen, außer jene der Paschas, denen auch die hochragenden Lampen gehörten, die durch eine Nacht brannten, in der die Artillerie weiterfeuerte, ohne Unterbrechung, wie ein Ausgesang, der sich nicht erschöpfte. In der Verwirrung, die der Abzug vom Berg Arafah verursachte, hatten viele Pilger ihre Dromedare verloren, und während Sheikh Abdullah, eingewickelt in seinen Ihram und eine rauhe Decke, vergeblich den Schlaf suchte, hörte er ihre heiseren Stimmen umherirren.
Im Monat von Dhu’l-Qaadah des Jahres 1273
Möge Gott uns seine Gunst und Gnade erfahren lassen
MOHAMMED: Ich habe ihn nie aus den Augen gelassen. Ich war mir sicher, er würde sich eines Tages eine Blöße geben. Ich wollte ihn entlarven. Ich habe einen meiner Onkel gebeten, uns nach Arafah und Mina zu begleiten, damit er mir zur Seite stünde. Das war auch gut so. Auf dem Berg Arafah habe ich die anderen aus den Augen verloren. Ich hatte mich der Predigt genähert, weil sie von unserem Zeltplatz aus nicht zu hören war, aber Sheikh Abdullah hatte wohl Sorge, daß wir zu spät aufbrechen würden, er ließ die beladenen Dromedare abreiten. Als ich zu unserem Platz zurückkam, waren sie nicht zu finden. Ich mußte zu Fuß nach Mina gehen. Ich habe die anderen einige Stunden lang gesucht, dann gab ich auf und legte mich im Sand schlafen. Kalt war es,
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