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Der Weltensammler: Roman (German Edition)

Der Weltensammler: Roman (German Edition)

Titel: Der Weltensammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilija Trojanow
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die Kenntnisse sein, nach denen er spionieren sollte.
    – Das Wichtigste hat er vor dir geheimgehalten.
    – Er durfte niemandem etwas sagen. Selbst mir nicht.
     
     
     
    26.
    WER DEN SCHÜLERN GESCHICK VERMITTELT
     
    Hauptmann Walter Scott – ja, ein Verwandter des Dichters, ein direkter Nachfahre sogar – rammte einen Jalon in die Erde. Rotweiße Streifen, die der Wüste anstanden wie eine Häftlingskluft. Die Erde war gichtbrüchige Haut auf schwarzem Ton. Du wirst schnell lernen, sagte er. Es ist so einfach wie Patiencen legen. Wir machen nichts anderes, als das Unbekannte an das Bekannte anzubinden. Wir fangen die Landschaft ein wie ein wildes Pferd. Mit technischen Mitteln. Wir sind die zweite Vorhut der Aneignung. Zuerst wird erobert, dann wird vermessen. Unser Einfluß steht auf kariertem Papier. Du grämst dich, weil du noch keinen Kampfeinsatz gesehen hast. Das ist unbegründet. Die kartographische Erschließung, die wir leisten, ist von enormer militärischer Bedeutung. Der Kompaß, der Theodolit und die Nivellierwaage sind unsere wichtigsten Waffen. Wer sich in dem Koordinatennetz verfängt, das wir auswerfen, der ist für die eigene Sache verloren. Er ist für die Zivilisation gezähmt. Schließe ein Auge, und stelle das andere möglichst scharf. Du benötigst nur eine Eigenschaft als Vermesser. Du mußt genau sein, absolut exakt. Wir Vermesser sind penible Menschen. Gewöhne dir also etwas Pedanterie an. Das Prinzip ist denkbar einfach. Die Festpunkte stehen in einem Dreieck. Langsam schreiten wir voran, Dreieck um Dreieck, Polygon um Polygon. Wir können nicht mehr als einen Kilometer am Tag erfassen. Deswegen kampieren wir wochenlang an einem Ort und strecken unsere Dreiecke in alle Richtungen aus. Es gilt, zwei Werte zu messen: die Entfernung und die Höhe. Natürlich auch den Winkel zwischen einer Position und einer Erhöhung. Und wie ist ein Winkel definiert, Dick? Als Abstand zwischen Orthodoxie und Häresie? Eigentlich als Differenz zwischen zwei Richtungen. Ich lag also in etwa richtig? Weißt du, was es in der Mathematik bedeutet, wenn man ›in etwa‹ richtig liegt, Dick? Wieso fällt es mir schwer, dich als Vermesser zu sehen?
    Gewiß, Burton wird mit dem Jalon in der Hand keine Karrieremachen, soweit hat Scottie recht. Er ist dieser Einheit zugeteilt, weil er irgendeiner Einheit zugeteilt werden muß und weil er von den abgelegenen Camps aus leichter zu seinen Beutezügen aufbrechen kann. Er kann sich nützlich machen, hinter dem Nivelliergerät. Er schließt die Augen. Die Tageszeit, in der die Gedanken verschlicken. Wie soll man den genauen Standort eines Punktes bestimmen, wenn alles flimmert. Als er seine Augen wieder öffnet, sieht er einen Derwisch durch die Waagerechte ziehen. Ein schwarzes Gewand, eine Flickenmütze. Ich bin derjenige, der alleine fliegt. Die Augen sitzen tief in einem Trog aus Kajal. Die Hände sind mit monströsen Ringen geschmückt. Burton schließt die Augen. Als er sie wieder öffnet, ist der Derwisch in Grün gekleidet, die Ketten um seinen Hals sind silbern und blechern, sie sind aus Stoff und aus Edelstein. Ich bin derjenige, der alleine fliegt. Sein Haar, sein Bart ist gefärbt, orangebraun wie Henna. Burton schließt wieder die Augen. Läßt sie lange zu. Er buchstabiert alle Alphabete durch, die er kennt. Dann öffnet er seine Augen. Habt ihr ihn gesehen? ruft er seinen Kameraden zu, gegen den Wind. Wie lautet der Wert? Schreien sie zurück.
    Der Derwisch war keine einmalige Erscheinung. Je näher sie ihre Dreiecke an das nächste Dorf setzten, desto öfter lief er, in sicherer Entfernung, an Burtons abmessendem Blick vorbei. Er war jedesmal ein anderer, der Derwisch. Er schien nie eine Gestalt anzunehmen, die er schon einmal innehatte. Merkwürdig, daß die anderen ihn nicht sahen. Einmal, der Arbeitstag war fast abgenommen, beschloß Burton, ihm zu folgen. Bis zu einer Moschee, neben der sich ein ummauertes Grabmal befand. Ein verwinkelter Zugang. Eine Dichte an Menschen und Erregung. Er vernahm ein Lied, es zog ihn hinein, ein Lied, das ihn bewegte, ein Lied, das an dem Putz einer verborgenen Kammer seines Wesens kratzte. Diese Berührung, sie war ein Erstrahlen, der Ort vor ihm erstrahlte, und er selber war von Licht durchflutet. Der Anlaß war festlich, das Grabmal des Heiligen war von einer unmeßbaren Sehnsucht aufgeladen. Es herrschte ein Gedränge, das ihn freundlich aufnahm, ein Vorgeschmack auf das Gedränge, das vor den Toren zum Himmel

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