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Der Weltensammler: Roman (German Edition)

Der Weltensammler: Roman (German Edition)

Titel: Der Weltensammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilija Trojanow
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herrschen würde. Er erreichte das mit einem bestickten grünen Stoff bedeckte Grabmal nicht. Er wurde abgelenkt. Gegenüber dem kleinen Tor, durch dassich die Pilger bückten, um Einlaß zu finden, saßen einige Männer auf dem Boden. Sie sangen das Lied, das ihn berührte. Es klang wie eine Liebeserklärung an alles Lebendige. Die Stimme des Sängers, eine ungewöhnliche Stimme, die dem tieferen Ernst eine schrille, fast närrische Note gab, sie schraubte sich hinauf, sie drechselte den Gesang auf einer immer schneller rotierenden Scheibe. Auf einmal blickte der Derwisch ihm in die Augen. Das Drechseln setzte sich in ihm fort. Nehmen Sie Platz, sagten die Augen, verweilen Sie. Wir sind alle Gäste. Wir sind alle Wanderer. Seien Sie einer von uns. Und das Lied warf weiteres Licht in die Nacht und auf die dichte, sich fortbahnende Menge.
     
     
     
    27.
    NAUKARAM
     
    II Aum Sarvasiddhaantaaya namaha I Sarvavighnopashantaye namaha I Aum Ganeshaya namaha II
    – Hast du eigentlich kein schlechtes Gewissen gehabt, daß du einem Firengi hilfst, dein eigenes Volk zu bespitzeln?
    – Mein Volk. Das war nicht mein Volk. Haben Sie nicht zugehört? Dort leben überwiegend Beschnittene.
    – Trotzdem. Dir näher als die Angrezi.
    – Jeder ist mir näher als ein Miya. Wissen Sie, was für Albträume ich dort hatte? Wenn ich nicht gerade befürchtete, daß Burton Saheb in irgendeiner Gasse die Kehle durchgeschnitten werden könnte. Ich hatte Angst, unser Gujarat könnte so werden wie der Sindh. In meinem Albtraum waren wir nur noch wenige. Baroda war in Trauer. Es gab keine Klänge in meinem Traum. Keine Gesänge, keine Glocken, kein Aarti. Die Frauen gingen in Schwarz durch die Straßen, als wären sie auf dem Weg zu ihrer eigenen Beerdigung. Die Männer umlagerten unsere verängstigte Höflichkeit, sie spähten nach einem Grund, den Dolch zu ziehen.
    – Albträume sind die Schuld deines Kopfes, nicht deiner Nachbarn.
    – Mit ihnen können wir nicht Nachbar sein. Sie werden mit allen Mitteln danach trachten, uns zu vertreiben, wie sie es im Sindh getan haben. Wären die Angrezi nicht gekommen, wer weiß, ob wir lange unter ihnen überlebt hätten.
    – Du phantasierst, auch wenn du wach bist.
    – Wir müssen uns wehren, hier, bevor unser Gujarat wie der Sindh wird.
    – Was geschah mit den Spitzelberichten deines Herrn?
    – Er trug sie dem General vor. Unter vier Augen. Ich glaube, sie haben Wohlgefallen aneinander gefunden, der General und Burton Saheb. Sie hatten trotzdem ihre Auseinandersetzungen. Der General erwartete von jedem Soldaten, daß er Befehle annimmt und ausführt. Daß er keine eigene Meinung äußert, es sei denn, er wird danach gefragt. Burton Saheb hingegen benötigte nie einen Grund, sein Urteil abzugeben. Er widersprach dem General, wann immer ihm danach war. Und das war ziemlich häufig. Er war der Ansicht, der General wolle im Sindh zuviel ändern und zu schnell. Sein Rechtsempfinden war zu starr, das war sein bevorzugtes Beispiel, es stoße die Einheimischen vor den Kopf. Gerechtigkeit ist ein anerzogener Geschmack, pflegte Burton Saheb zu sagen. Wie lange hat es gedauert, bis wir uns an Porridge zum Frühstück gewöhnt haben. Wie lange würde es dauern, wenn wir unsere Eßgewohnheiten umstellen müßten, sagen wir einmal, auf gebratene Ziegenleber? Der General hatte einen Mann aufhängen lassen, weil dieser seine Frau niederstach, als er herausfand, daß sie ihn betrog. Das Problem war, der Mann hatte reagiert, wie es von einem Mann dort erwartet wurde. Beim geringsten Anlaß schneiden die Kerle dort ihre Frauen in Stücke. Wenn er die Frau am Leben gelassen hätte, wären er und auch seine Söhne entehrt gewesen. Die Schande wäre gewaltig. Unvorstellbar. Sie würden wie Ausgestoßene sein, die Zielscheibe allen Spottes. Ihre Freunde würden sich zurückziehen. Der General wollte ein Zeichen setzen, daß die Zeiten sich geändert haben. Burton Saheb schimpfte. Über die Dickköpfigkeit des Generals. Nicht, weil er das Vorgehen des Mannes billigte. Er erkannte sofort, wie wenigVerständnis dieses Urteil unter den Einheimischen finden würde. Er sah Ärger voraus. Er behielt recht. Überall wurde über den Wahn der Ungläubigen gelästert, die es einem Mann nicht einmal mehr erlaubten, seine Ehre wiederherzustellen. Der Hauptsitz des Generals wurde täglich von Gruppen mit Einsprüchen und Klagen belagert. Dieses Urteil verursachte Flutwellen von Gerüchten über die weiteren Absichten der

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