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Der Weltensammler: Roman (German Edition)

Der Weltensammler: Roman (German Edition)

Titel: Der Weltensammler: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ilija Trojanow
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Sheikh, hörte er den Diener zu seiner Linken sagen, wenn Sie nun bitte dies hier benutzen würden. Der Arzt blickte auf den Gegenstand, der ihm in die Hand gelegt wurde. Es war ein Kaleidoskop. Setzen Sie es an Ihr Auge, sagte der Diener. Rufen Sie laut, wenn Sie mich brauchen; ich stehe vor der Tür. DerArzt drückte den Zylinder an sein rechtes Auge. Farben zerbrachen, Bruchstücke, zusammengewürfelt, auseinandergeschleudert. Er riß das Kaleidoskop weg – Wie soll das denn gehen! –, die Stimme des Dieners ermahnte ihn: Entfernen Sie es nicht! Geduld, Sie werden schon genug zu sehen bekommen. Erneut stülpte er sich das zerfließende Mosaik über das Auge. Er hörte Stoff rascheln, er spürte den Mißmut, den eine chronische Krankheit verursacht. Jemand berührte das Kaleidoskop. Die Farben sprangen heraus, er sah eine kleine Hand, einen Wandteppich, eine Nase, die sich in ein Gesicht zurückzog, das unverhüllte Gesicht eines Mädchens, dessen Blick belustigt und neugierig auf den halb blinden, halb binokulierten Arzt ruhte. Er lächelte und richtete das Gerät auf die Lippen des Mädchens, die sich bewegten. Ich bin gar nicht krank, sagte das Mädchen, aber meine Mutter. Das Sichtrohr in seiner Hand wanderte weiter, zu der Frau, die auf dem Bett lag. Alles an ihr war verborgen, außer ihrem Schmerz. Wie soll ich sie untersuchen? Der Arzt lachte grimmig. Ich hätte zum Zwecke der Diagnose genausogut zu Hause bleiben können. Wir können es wie bei den anderen Ärzten machen, sagte das Mädchen. Sie sagen mir, was Sie brauchen, und ich helfe Ihnen. Wenn wir mit dem Puls beginnen könnten, sagte der Arzt, das wäre ein guter Anfang. Der Arm der Kranken wurde ihm gereicht. Auf das Handgelenk folgten die Augen, der Rachen. Mit der Linken hielt er das Kaleidoskop, mit der Rechten tastete er die Schmerzlinien ab, die sich über den Rücken der Frau zogen, über die Nieren und die Leber bis zum gekröselten Bauch, wo seine Untersuchung endete. Einmal mußte er das Okular zur Seite legen, um eine Schwellung mit beiden Händen abzutasten. Er wurde von den Frauen nicht abgemahnt.
    Die Untersuchung bereitete ihm wenig Freude. Die Frau gab von Zeit zu Zeit gnatzige Laute von sich, auf die ihre Tochter mit gurrenden Beschwichtigungen reagierte. Nichts an ihrem Leiden weckte sein Mitgefühl. Der Arzt wollte die Enttäuschung so rasch wie möglich hinter sich bringen, zumal er sich nicht sicher war, wie er der Patientin Erleichterung verschaffen, geschweige denn sie heilen konnte. Er begann über eine Diät zu referieren, und er erklärte, er werde ein Rezept schreiben und dem Hausherrn übergeben. Er wolltesich verabschieden, als die dritte Frau, die sich bislang in Schweigen gehüllt hatte, ihn bat, er möge noch ein wenig länger bleiben, da er schon im Haus sei, sie habe auch eine Beschwerde, eine kleinere. Zuerst aber müßten sie ihre Mutter in ihr Bett zurückbringen. Der Arzt erklärte sich einverstanden. Er blieb sitzen und kostete den Nachgeschmack der Stimme aus, die zuletzt gesprochen hatte. Die dritte Frau war älter als ihre Schwester, erwachsen, schlank, würdevoll, eine selbstbewußte Frau. Die zwei jüngeren Frauen kehrten zurück. Ich bin verheiratet, sagte die Ältere. Bitte setzen Sie das Teil wieder auf, sagte die Jüngere. Mein Mann erwartet von mir Kinder – jedes Wort schien sie viel Überwindung zu kosten –, und Geduld gehörte nicht zu seinen Stärken. Sie zog ihren Schleier weg und entledigte sich ihres Überwurfes. Alles liegt in Gottes Hand, murmelte der Arzt. Gewiß, Sheikh, sagte sie, aber vielleicht ist etwas an mir nicht in Ordnung, etwas, das in Ihrer Hand liegt? Sie trug dunkles Rot. Wenn ein so berühmter Arzt wie Sie mir versichern könnte, daß ich gebären kann. Der Arzt konnte sein Kaleidoskop nicht von ihrem Gesicht abwenden. Gewiß, murmelte er und verlor sich in ihren Zügen, die von Trauer geprägt waren. Wenn ich in Ihre Augen sehen dürfte? Er näherte sich ihrem Gesicht, bis auf die halbe Elle, die das Okular maß. Ihre tiefdunklen Augen waren zwei Fische, die in einem unergründlichen Geist schwammen. Weit oben auf ihrer Wange, unter dem rechten Auge, war ein Muttermal, als hätte sie vergessen, eine schwarze Träne wegzuwischen. Aus der Nähe wirkte es überflüssig, doch in ihrem Gesicht war es ein Bestandteil ihrer Vollkommenheit. Sie legte sich hin. Beginnen Sie, Sheikh. Er zögerte. Wie sollte er die Gebärfähigkeit einer Frau prüfen? Er maß zuerst den Puls, um Zeit

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