Der Wert des Blutes: Kriminalroman (German Edition)
Turner sprechen zu lassen, doch er entpuppte sich als Fan. Und zwar von mir, nicht etwa von Greig Turner. Er hatte ein paar wissenschaftliche Arbeiten von mir gelesen, die ich über das Beaverbrook-Programm geschrieben hatte, und wollte sehr gern mit mir darüber diskutieren. Leider hatte ich mein Notebook nicht mitgebracht, aber ich sprach mit ihm über ein paar Fallgeschichten bei einer Tasse schwachen Tees, bevor ich auf das Thema Turner kam.
»Warum interessiert er Sie?«, fragte er.
»Ich bin auf der Suche nach einer Freundin«, sagte ich. »Nach einer, die er früher mal kannte.«
»Aha«, sagte Dr. Lyttelton nachdenklich und stellte die Tasse auf die weiße Untertasse. »Dr. Beaverbrook, Sie müssen verstehen, dass er ein sehr alter Mann ist.«
»Jamie«, sagte ich. »Bitte nennen Sie mich Jamie. Er ist wohl über neunzig?«
»Ja, aber das chronologische Alter ist nicht der wichtigste Faktor. Manche Menschen werden über hundert und verlieren nie ihre Fähigkeiten. Andere sind schon mit sechzig senil.«
»Und wie genau ist Mr. Turners Geisteszustand?«
Seufzend ging er zu einem hohen grauen Aktenschrank. »Er leidet unter einer Altersdemenz vom Typ Alzheimer, aber das kann man von einem Mann in seinem Alter auch erwarten.« Er zog einen hellblauen Ordner hervor und ging an seinen Schreibtisch zurück. Er schlug ihn nicht auf, sondern spielte damit, als er sich hinsetzte. »Sie wissen natürlich über Alzheimer Bescheid.«
Ich nickte und ergänzte: »Gedächtnisstörungen, Wahnvorstel lung en, Demenz.«
»Dann wissen Sie ja auch, dass die Gedächtnislücken des Patienten immer deutlicher zutage treten und er dazu neigt, diese aufzufüllen, indem er sich das Fehlende zusammenreimt. Oder zusammenfantasiert. Aber Mr. Turner ist aufgrund einer Spätparaphrenie ein komplizierterer Fall. Das ist eine Form der Schizophrenie, die sich am auffälligsten in einem Verfolgungswahn zeigt. Sporadisch halluziniert er, hört Stimmen, glaubt, dass die Mächte ihm nach dem Leben trachten. Manchmal erscheint er ganz klar im Kopf, und er ist fähig, reale Gespräche und Ereignisse in die kompliziertesten Fantasien einzubauen. Wenn Sie ihn um Informationen bitten wollen, haben Sie sich ganz schön was vorgenommen!«
Das hatte ich eigentlich nicht hören wollen, aber trotzdem wollte ich nicht weggehen, ohne mit Turner gesprochen zu haben, gaga oder nicht. »Ich möchte es aber gern versuchen, wenn Sie nichts dagegen einzuwenden haben.«
Er trommelte mit den Fingern auf der Akte. »Ja, natürlich. Ich bringe Sie zu ihm.«
Er führte mich aus dem Büro hinaus durch einen Flur mit grüner Auslegware und in einen schönen Wintergarten voller üppiger grüner Pflanzen und Rohrmöbel. Vier Heimbewohner, zwei Männer und zwei Frauen, waren in ein Pokerspiel vertieft und ein junges Mädchen in weißer Schwesterntracht servierte etwas Cocktailähnliches. Das hier mutete eher wie eine erstklassige Gesundheitsfarm als wie ein Seniorenheim an. Wir gingen durch die Verandatür, durch einen steingepflasterten Patio und auf einen wunderschön manikürten Rasen, auf demgerade Krocket gespielt wurde. Wir machten einen Bogen um das Spiel und gingen durch eine Gruppe von Weidenbäumen. Ich hörte das sanfte Murmeln eines Bächleins und dann sah ich einen Rollstuhl im Schatten eines Baums. Eine hübsche blonde Pflegerin saß in der Nähe und las in einem Taschenbuch. Sie sah hoch, als Dr. Lyttelton und ich näher kamen.
»Guten Tag, Jean. Wie geht es Mr. Turner heute?«
»Uns gehts gut, Dr. Lyttelton. Wir hatten einen guten Lunch und später wollen wir ein bisschen fernsehen.« Sie war eine attraktive junge Frau, das Haar zu einem ordentlichen Knoten gesteckt, große blaue Augen und hohe Wangenknochen. Sie musterte mich neugierig, aber der Arzt stellte mich nicht vor, führte mich nur an ihr vorbei, sodass wir vor dem Rollstuhl zu stehen kamen.
Die Gestalt, die darin saß, hatte so gut wie gar keine Ähnlichkeit mit dem lächelnden Filmstar auf dem Foto in Terrys Wohnung. Man hätte ihn glatt für eine Schildkröte ohne Panzer halten können, wie er so dasaß, in eine dicke Wolldecke gehüllt, trotz der warmen Nachmittagssonne. Von dem tadellos gepflegten schwarzen Haar auf dem Foto waren jetzt nur noch ein paar weiße Büschel übrig und die Kopfhaut war mit dunkelbraunen Muttermalen und Leberflecken übersät. Die Stirn war voller Runzeln und um die rötlichen wässerigen Augen hatte er tiefe Furchen. Die großen Tränensäcke sahen
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