Der Wettlauf zum Suedpol
Vorwand – Amundsen sollte auf diese Weise die Ehre haben, als erster Mensch am Südpol anzukommen.
Gegen drei Uhr nachmittags ertönte plötzlich ein lautes »Halt!« von allen drei Schlittenlenkern. Sie hatten die an ihren Gefährten angebrachten Messräder nicht aus den Augen gelassen und festgestellt, dass den Zählwerken
zufolge der Pol erreicht war. Stumm drückten sich die Männer die Hand, lange und fest. »So sind wir nun angekommen und können unsere Fahne am geographischen Südpol aufstellen«, trug Amundsen lapidar in sein Tagebuch ein. »Gott sei dafür gedankt.« Und Bjaaland notierte: »Wir haben das Ziel unserer Wünsche erreicht, und das Großartige ist, wir sind die Ersten, hier weht keine englische Flagge, sondern nur die dreifarbige norwegische.« Das Aufpflanzen der Fahne sollte von allen fünf Expeditionsteilnehmern zusammen vorgenommen werden, so hatte Amundsen es bestimmt. »Dies war die einzige Weise, auf die ich an dieser einsamen verlassenen Stelle meinen Kameraden meine Dankbarkeit erweisen konnte«, so Amundsen. »Ich fühlte, auch sie fassten es in dem Geist auf, in dem es ihnen geboten wurde. Fünf raue, vom Frost mitgenommene Fäuste griffen nach der Stange, hoben die wehende Fahne auf und pflanzten sie auf – als die einzige und erste auf dem geografischen Südpol.« Zu Ehren seines Königs gab Amundsen der weiten Ebene den Namen »König Haakon VII.-Plateau«.
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Der große historische Moment, wie der Illustrator Andreas Bloch ihn sah: Fünf Norweger beim gemeinsamen Setzen ihrer Flagge am Pol, 14. Dezember 1911.
Danach wurden Fotos geschossen – mit Bjaalands persönlicher Taschenkamera, denn Amundsens »offizielle« Kamera war ausgefallen. Die
hatte der Mann, der sonst jeden Schritt minutiös plante, zwar auf die Reise mitgenommen, allerdings auf eine praktische Einweisung in die Technik des Fotografierens verzichtet. So brachte die norwegische Südpolexpedition, wie ein Vertrauter sagte, nur »elendes Amateurmaterial« mit nach Hause, was die mediale Verwertung des Projekts später erheblich erschwerte. Darüber zerbrach sich für den Moment allerdings noch niemand den Kopf. Und da sich, wie Amundsen bemerkte, die Gegend ohnehin nicht so sehr für lange Zeremonien eignete, begann bald danach wieder der Alltag: Hansens Lieblingshund Helge musste wegen Entkräftung geschlachtet werden und wurde anschließend an die übrigen Tiere verfüttert.
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Südpolbezwinger mit Flagge: Links vier »Zweibeiner«, rechts die treuen Vierbeiner, die nicht unwesentlich zu ihrem Sieg beigetragen haben.
Abends im Zelt wurde zur Feier des Tages Seehundsteak kredenzt, zusammen mit einer Extraportion Pemmikan, Zwieback und Schokolade. »Ich kann nicht sagen – obgleich ich weiß, dass es eine viel großartigere Wirkung hätte –, dass ich vor dem Ziel meines Lebens stand«, schrieb Amundsen rückblickend über diesen Tag. »Dies wäre doch etwas zu sehr übertrieben. Ich will lieber aufrichtig sein und geradeheraus erklären, dass wohl noch nie ein Mensch in so völligem Gegensatz zu dem Ziel seines Lebens stand wie ich bei dieser Gelegenheit. Die Gegend um
den Nordpol – ach ja, zum Kuckuck –, der Nordpol selbst hatte es mir von Kindesbeinen an angetan, und nun befand ich mich am Südpol! Kann man sich etwas Entgegengesetzteres denken?« Als er am Abend sein Tagebuch zuklappte und über diesen Tag nachdachte, der in die Geschichte der Polarforschung eingehen würde, fiel ihm auf, dass er sogar noch einen Tag früher am Pol eingetroffen war, als er dachte. Auf der Fahrt zur Antarktis hatte er mit der Fram die Datumsgrenze am 180. Längengrad von West nach Ost überschritten und hätte deshalb eigentlich einen Tag doppelt zählen müssen – was er nicht tat. Nach den allgemein gültigen Maßstäben wurde der Pol deshalb bereits am 14. und nicht am 15. Dezember 1911 erobert.
In den folgenden Tagen ging es nun darum, den Polpunkt möglichst genau zu bestimmen und den Nachweis zu erbringen, dass man tatsächlich den südlichsten Punkt der Erde erreicht hatte. Es war ein schwieriges Geschäft in einer Gegend, in der die sonst üblichen Berechnungen nach der Sonnenhöhe kaum möglich waren, da die Sonne hier Tag und Nacht in nahezu derselben Höhe über das Firmament wandert. »Es war eine ganz eigentümliche Empfindung, wenn man, nachdem man sich abends um sechs Uhr zu Bett gelegt hatte, nachts um zwölf Uhr beim Aufstehen die Sonne anscheinend noch ganz auf derselben Höhe
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