Der Widersacher
auf sie zu. Auf dem Namensschild an der Brust ihres Krankenhauskittels stand Dr. Hannah Stone. Sie war attraktiv und hatte ihr rötlich blondes Haar streng nach hinten gebunden. Sie war Mitte vierzig, und Bosch fiel auf, dass sie ihre Uhr am rechten Handgelenk trug und dass sie zum Teil ein Tattoo verdeckte.
»Ich bin Dr. Stone. Könnte ich bitte Ihre Ausweise sehen, meine Herren?«
Bosch und Chu klappten ihre Brieftaschen auf. Ihre Dienstausweise wurden geprüft und dann rasch zurückgegeben.
»Kommen Sie bitte mit. Es ist besser, wenn Sie die Männer nicht hier draußen sehen.«
»Dafür ist es wahrscheinlich schon zu spät«, sagte Bosch.
Sie antwortete nicht. Sie wurden in eine Wohnung auf der Vorderseite der Anlage geführt, die zu Büros und Therapieräumen umfunktioniert worden war. Dr. Stone stellte sich ihnen als die Leiterin des Rehabilitationsprogramms vor. Ihre Chefin, die Direktorin der Einrichtung, war den ganzen Tag wegen einer Budgetbesprechung in Downtown. Dr. Stone war ziemlich kurz angebunden und geschäftsmäßig.
»Was kann ich für Sie tun, Detectives?«
Es schien, als fühlte sie sich bei allem, was sie bis dahin gesagt hatte, sogar bei dem Hinweis auf die Budgetbesprechung, unter einem gewissen Rechtfertigungsdruck. Sie wusste, dass Polizisten nicht guthießen, wofür diese Einrichtung sich einsetzte, aber sie stand dazu. Sie machte nicht den Eindruck, als ließe sie sich so schnell unterkriegen.
»Wir ermitteln in einer Straftat«, sagte Bosch. »Vergewaltigung und Mord. Wir haben die Beschreibung eines Verdächtigen, von dem wir annehmen, dass er hier bei Ihnen ist. Weiß, männlich, zwischen achtundzwanzig und zweiunddreißig Jahre alt. Er hat dunkles Haar, und sein Vor- oder Nachname könnte mit C beginnen. Dieser Buchstabe war auf den Hals des Verdächtigen tätowiert.«
Bisher hatte Bosch nichts Unwahres gesagt. Die Vergewaltigung und der Mord waren tatsächlich passiert. Er hatte lediglich ausgelassen, dass die Tat zweiundzwanzig Jahre zurücklag. Die besonderen Kennzeichen des Ex-Häftlings hatte Bosch aus der Datenbank des Amts für Bewährungshilfe. Deshalb passte seine Personenbeschreibung bis aufs i-Tüpfelchen zu Clayton Pell. Selbst wenn es höchst unwahrscheinlich war, dass Pell an dem Mord in Venice Beach beteiligt gewesen war, galt er wegen der DNA als Verdächtiger.
»Gibt es hier jemand, auf den diese Beschreibung zutrifft?«, fragte Bosch.
Stone zögerte, bevor sie antwortete.
Bosch hoffte, sie würde ihre Schützlinge nicht decken. Wie erfolgreich solche Rehabilitationsprogramme auch zu sein behaupteten, die Rückfallrate unter Sexualstraftätern war zu hoch.
»Ja, so jemanden haben wir hier«, antwortete sie schließlich. »Aber er hat in den letzten fünf Monaten enorme Fortschritte gemacht. Deshalb möchte ich Ihnen nur sehr ungern …«
»Wie heißt er?«, fiel ihr Bosch ins Wort.
»Clayton Pell. Er sitzt in der Runde da draußen.«
»Wie oft darf er die Einrichtung hier verlassen?«
»Täglich vier Stunden. Er hat einen Job.«
»Einen Job?« Das kam von Chu. »Sie lassen diese Typen einfach so auf die Menschheit los?«
»Das ist keine geschlossene Anstalt, Detective. Diese Männer sind alle freiwillig hier. Sie werden auf Bewährung aus der Haft entlassen, und dann müssen sie sich beim County melden und eine Bleibe finden, in der sie nicht gegen die Bestimmungen für Sexualstraftäter verstoßen. Wir führen hier in Absprache mit dem County eine offene Einrichtung, die diese Vorgaben erfüllt. Aber niemand muss hier leben. Diese Männer sind hier, weil sie sich integrieren, weil sie wieder nützliche Mitglieder der Gesellschaft werden wollen. Sie wollen niemand ein Leid zufügen. Wenn sie zu uns kommen, werden sie von uns psychologisch betreut, und wir helfen ihnen bei der Arbeitssuche. Sie bekommen bei uns etwas zu essen und ein Bett zum Schlafen. Aber sie dürfen nur hierbleiben, wenn sie sich an unsere Regeln halten. Wir arbeiten eng mit dem Bewährungsamt zusammen, und unsere Rückfallrate liegt unter dem Landesschnitt.«
»Aber sie ist nicht perfekt«, warf Bosch ein. »Für viele dieser Männer gilt: einmal ein Sextäter, immer ein Sextäter.«
»Auf einige trifft das sicher zu. Aber was bleibt uns schon anderes, als es zu versuchen? Wenn jemand seine Haftstrafe verbüßt hat, muss er in die Gesellschaft zurückgeschickt werden. Dieses Programm ist vielleicht eine der besten letzten Gelegenheiten, künftigen Straftaten
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