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Der Wind über den Klippen

Der Wind über den Klippen

Titel: Der Wind über den Klippen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leena Lehtolainen
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nicht besucht, als er nicht ans Telefon gegangen war?
    Schluss jetzt, ich war doch nicht der liebe Gott! Bildete ich mir etwa ein, ich hätte Ströms Selbstmord verhindern können?
    Ich zwang mich, wieder an Juha Merivaara zu denken. Wenn er voller Widersprüche gesteckt hatte, wie Pertsa, dann musste ich es vermeiden, mir ein allzu glattes Bild von ihm zu machen.
    War es denn nicht denkbar, dass er gleichzeitig geldgierig und ein Naturfreund war, seine Ehe für wichtig hielt und Geschäftsfreunde in Sexlokale ausführte? Vielleicht war die Mare Nostrum ein Fehlgriff gewesen, aus einer Notsituation heraus gegründet. Eine Tochterfirma, deren Tätigkeit Juha Merivaara auf Eis gelegt hatte, sobald ihm klar geworden war, dass sie sich nicht mit dem Profil des Hauptunternehmens vereinbaren ließ.
    Der Türsummer riss mich aus meinen Überlegungen. Die wichtigtuerische Türampel, die allen Dezernatsleitern zustand, verwendete ich nur, wenn ich in meinem Büro mit Zeugen sprach. Die Kollegen, die mich schon als Hauptmeisterin gekannt hatten, klopften meistens einfach an, Ström hatte allerdings nicht einmal das für nötig gehalten. Als ich auf den grünen Knopf drückte, kam Anu Wang herein.
    »Hallo, Maria. Hast du einen Moment Zeit?«
    Ich nickte, Wang setzte sich und begann: »Ich wollte bei der Morgenbesprechung nicht davon anfangen, es ist ein bisschen unangenehm, aber …«
    Sie verstummte. Ihr leicht gelb getöntes, rundes Gesicht wirkte bekümmert, der rabenschwarze Zopf schwang von der Schulter auf den Rücken. Für eine Vietnamesin war Wang mit ihren eins siebzig groß, aber ihre Hände waren so zierlich, dass meine eigenen daneben wie Schaufeln anmuteten.
    »Was gibt es denn?«, fragte ich, bemüht, den Ton der verständnisvollen Chefin zu treffen, mit der man über alles reden kann. Hoffentlich ging es nicht um meine dämliche Äußerung über Koivus Frauengeschichten.
    »Ich möchte den Fall El Haj Assad abgeben«, sagte Wang zögernd. »Ich habe lange darüber nachgedacht, es widerstrebt mir, einfach aufzugeben, aber ich fürchte, es geht nicht anders.«
    Der aus Saudi-Arabien stammende Wirtschaftswissenschaftler El Haj Assad hatte Anfang August versucht, seine halbwüchsige Tochter zu erwürgen, weil sie gegen seinen Willen zu einer Party gegangen war und obendrein statt langem Rock und Schleier Jeans und ein ärmelloses Top getragen hatte, was der Vater für unverzeihlich hielt. Amal hatte ihren Vater in die Hand gebissen, war weggerannt und hatte die Polizei alarmiert. Jetzt wohnte sie auf eigenen Wunsch bei der Familie einer Klassen-kameradin. Pertsa hatte Wang den Fall zugeteilt, denn seiner Meinung nach war sie als Vertreterin einer ethnischen Minderheit bestens geeignet, Fälle zu übernehmen, in denen Opfer oder Täter ausländischer – gleich welcher – Herkunft waren.
    »Warum? Es ist doch eine eindeutige Körperverletzung, und du hast hervorragende Arbeit geleistet.«
    »Aber … ich habe das Gefühl, bei den Vernehmungen nichts aus dem Mann herauszubekommen! Er verachtet mich, wahrscheinlich stehen Polizisten in seinem Land weit unter den Ölmagnaten. Die Familie hat ein philippinisches Hausmädchen, Rosita, und als ich zum ersten Mal ins Haus kam, um El Haj Assad zu vernehmen, nahm er wie selbstverständlich an, ich wäre Rositas Freundin. Asiaten sind für ihn Abschaum! Und von einer Frau vernommen zu werden, empfindet er als unglaubliche Beleidigung. Als Pekka mich einmal begleitet hat, sprach Assad prompt nur mit ihm. Gestern hat er mir auf jede Frage eine Beleidigung an den Kopf geworfen.«
    Mit ihren onyxfarbenen Augen sah sie mich halb beschämt, halb herausfordernd an. Ich kam nicht dazu, ihr zu antworten, denn sie sprach bereits weiter:
    »Andere Länder, andere Sitten, hat Ström gesagt, als er mir den Fall zuteilte und ich meine Zweifel vorbrachte, ob ich die Richtige dafür sei. Als müsste mir das irgendwer sagen! Seit Jahrzehnten tut meine Familie nichts anderes als sich anzupas-sen, zuerst in Nordvietnam, wohin die Angehörigen meines Vaters vor der chinesischen Revolution und Maos Truppen geflohen waren, dann hier in Finnland. Ich habe sogar meinen Vornamen geändert, und du hast selbst gehört, welche Mannschaft ich letzten Samstag beim Fußball angefeuert habe. Aber wenn die anderen sich nicht an die Regeln halten, was dann?«
    Wang hatte vor gut anderthalb Jahren die Polizeischule abgeschlossen, sie war erst dreiundzwanzig. Beinahe erkannte ich mich in ihr wieder, wie ich vor

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