Der Winterpalast
Geschichten hören, und führte ihm vor, was sie gelernt hatte, während er fortgewesen war, Sticken mit Kreuzstich, französische Gedichte, Knicksen. Er unternahm mit ihr lange Spaziergänge auf der Großen Perspektivstraße, von denen sie mit allerlei Einkäufen heimkehrten. »Lass mich, Papa!«, rief Darja und packte ihre Schätze vor mir aus: eine Porzellanpuppe mit strahlenden schwarzen Augen, getrocknete Früchte oder Konfekt in Schatullen aus Birkenrinde, rosa schimmernden Satin für ein Kleid, eine Halskette aus roten Holzperlen.
»Für mich, für dich, Maman. Für Mascha.«
Die Nachmittage waren noch so mild, dass man kein Feuer anzünden musste, und man brauchte auch noch kein Kerzenlicht. Mascha brachte ausgesuchte Köstlichkeiten auf den Tisch, Blini, Klöße, dampfenden Borschtsch, geräucherten Stör für Igor und all die Besucher, die, begierig nach Neuigkeiten, zu uns kamen.
Krieg, so bekam ich zu hören, bedurfte sorgfältiger Vorbereitung. Man musste seine Kräfte sammeln. Loyalität war wichtig. Innere Stärke. Weitsichtige Planung. Man schlug nicht aus einer Laune heraus drauflos, man zwang dem Feind die eigenen Spielregeln auf.
Igors frühere Kameraden lauschten seinen Ausführungen. Die meisten der Offiziere kannte ich noch aus der Zeit, als mein Mann bei der Garde gedient hatte, es waren aber auch einige Neulinge dabei, unter ihnen die Brüder Grigori und Alexej Orlow vom Ismailowski-Regiment. Sie waren kaum älter als zwanzig, hochgewachsene, bärenstarke Männer. Beide gut aussehend, allerdings war Alexejs Gesicht durch eine Narbe entstellt, die quer über eine Wange lief. Nach dem Tod ihrer Eltern waren sie in ein Haus an der Millionnajastraße gezogen und hatten ihre drei Brüder zu sich genommen. Sie hielten zusammen wie Pech und Schwefel, sagte Igor.
Unser kleines Wohnzimmer konnte die vielen Gardisten kaum fassen. Sie machten es sich auf den Sofas bequem oder saßen auf
Fensterbrettern wie übergroße grüne Vögel und hörten meinem Mann zu.
Igor ärgerte sich über die Politik im Land. Die ständigen Kurswechsel. Dass er seinen Leuten andauernd erklären musste, dass der Feind von gestern über Nacht zu einem Verbündeten geworden war. Soldaten brauchten klare Ansagen, deutliche Feindbilder, nahe, sichtbare Ziele. Sie brauchten eine einzige, feste Stimme, die ihnen ihre Befehle gab.
»Genau, so und nicht anders«, hörte ich Igors Kameraden sagen.
Sie sagten es laut und offen. Man sah es ihnen an, wie unzufrieden sie waren, sie machten keinen Hehl daraus.
Bären in einer Grube , dachte ich. Wissen sie nicht, dass es Füchse gibt, die sie überlisten werden? Oder sind sie so wild entschlossen, dass keine Gefahr sie schrecken kann?
Am Abend vor Igors Abreise, als Mascha Darja zu Bett gebracht hatte, saßen wir zwei alleine zusammen.
Zuerst redeten wir über Darja, wie gut sie schon Französisch konnte, dass ihr Zeichenlehrer fand, sie habe ungewöhnlich viel künstlerisches Talent. Dass wir jetzt, da Igor die neue Stelle hatte und ich wieder im Dienst der Kaiserin stand, Geld für ihre Mitgift beiseitelegen konnten.
Wir plauderten ganz gelöst und heiter über die Möglichkeiten, die sich uns eröffneten, über Erwartungen und Hoffnungen. Aber dann schlich sich Schweigen ein, anfangs zögernd, und machte sich immer schwerer im Raum breit.
Eine der Kerzen rußte. Ich stand auf, um den Docht zu kürzen, aber Igor hielt mich zurück. Seine Hand lag kühl und trocken auf meiner.
»Bitte«, murmelte er, als wollte ich ihn allein lassen.
Ich setzte mich wieder zu ihm.
Ein Schatten huschte über sein Gesicht. Er sah plötzlich müde aus, als machte er nur kurz Rast auf einem langen Marsch, den er bald fortsetzen musste.
Seine Stimme klang hohl in der Stille des Abends.
Es sei nicht allein die Politik, die ihn verunsicherte, sagte er. Nicht allein dieser Zickzackkurs, als ob Russland niemanden hätte, der das Ruder führt.
Die Ausrüstung der Soldaten tauge nichts, alles billiger Schund. Für die neuen Rekruten waren keine Musketen da, sie mussten mit Holzgewehren üben. Das ging zu weit. Was war los am Hof? Hatte Mütterchen Russland seine Söhne vergessen?
Ich zuckte zusammen und schaute zur Tür.
»Psst, Igor, das ist gefährlich«, flüsterte ich. »Hier haben die Wände Ohren.«
Er sah mich an, befremdet und zugleich tief gekränkt. Als ob ich ihm einen Vorwurf gemacht hätte, als hätte ich keine Ahnung, wer er wirklich war.
»Du hast keinen Feigling
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