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Der Wolkenatlas (German Edition)

Der Wolkenatlas (German Edition)

Titel: Der Wolkenatlas (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Mitchell
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ausverkauft war. Als Folge des ganzen Trubels werden Ayrs’ Aktien überall mächtig in die Höhe schießen, außer in Deutschland, wo man ihn als jüdischen Teufel denunziert. Zeitungen auf dem ganzen Kontinent bitten schriftlich um Interviews. Ich habe das Vergnügen, allen dieselbe höfliche, aber bestimmte Absage zu schicken. «Ich bin zu sehr mit Komponieren beschäftigt», murrt Ayrs. «Wenn sie wissen wollen, was ich meine, sollen sie sich verdammt noch mal meine Musik anhören.» Doch die Aufmerksamkeit bekommt ihm prächtig. Sogar Mrs.   Willems gibt zu, daß der Herr seit meiner Ankunft vor Lebenskraft strotzt.
    Kriegshandlungen an der Eva-Front setzen sich fort. Sie wittert, daß zwischen mir und meinem Vater etwas faul ist, was Anlaß zur Besorgnis gibt. Sie wundert sich öffentlich, warum ich niemals Briefe von meiner Familie erhalte und warum mir meine Kleider nicht nachgeschickt werden. Neulich fragte sie mich, ob nicht eine meiner Schwestern ihre Brieffreundin werden wolle. Um Zeit zu gewinnen, versprach ich ihr, den Vorschlag weiterzuleiten, d.   h., ich werde Dich möglicherweise um eine weitere Fälschung bitten müssen. Aber streng Dich an. Die verschlagene Füchsin ist quasi mein weibliches Pendant.
    Der August in Belgien ist in diesem Jahr mörderisch. Die Wiese färbt sich gelb, der Gärtner befürchtet Brände, die Bauern sorgen sich um ihre Ernte, aber zeige mir einen gelassenen Bauern, und ich zeige Dir einen zurechnungsfähigen Dirigenten. Werde den Umschlag gleich verschließen und einen Spaziergang durch den Wald zur Dorfpost machen. Es wäre dumm, ausgerechnet diesen Brief herumliegen zu lassen, damit eine gewisse siebzehnjährige Schnüfflerin ihn findet.
    Zu den wichtigen Dingen. Ja, ich werde mich mit Otto Jansch in Brügge treffen und ihm die illuminierten Handschriften persönlich übergeben, aber Du mußt alles in die Wege leiten. Will nicht, daß er erfährt, wessen Gastfreundschaft ich hier genieße. Jansch ist ein unersättlicher, aalglatter Raffzahn wie alle Händler, nur schlimmer. Er würde es ohne Zögern mit Erpressung versuchen, wenn sich dadurch der Preis drücken ließe – oder er gleich ganz aufs Bezahlen verzichten könnte. Sag ihm, ich erwarte Barzahlung mit frischen Banknoten, von faulen Ratenvereinbarungen will ich nichts hören. Danach weise ich Dir postalisch das Geld an, einschließlich der Summe, die Du mir geliehen hast. So bist Du aus dem Schneider, falls etwas schiefgeht. Ich bin ohnehin in Ungnade gefallen und muß nicht um meinen guten Ruf fürchten, wenn ich Jansch verpfeife. Richte ihm das aus.
    Dein
    R. F.
    ◆ ◆ ◆
    Zedelghem
    Abend, 16-VIII-1931
     
    Sixsmith,
    Dein langweiliger Brief vom «Anwalt» meines Vaters war ein Kreuzas. Bravo. Las ihn laut beim Frühstück vor – erregte nur flüchtiges Interesse. Poststempel von Saffron Walden ein famoser Einfall. Hast Du Dich wirklich von Deinem Labor losgerissen und bist an einem sonnigen Nachmittag nach Essex gefahren, um ihn eigenhändig aufzugeben? Ayrs lud unseren «Mr.   Cummings» nach Zedelghem ein, aber Du schriebst ja, Deine Zeit sei äußerst knapp bemessen, und so sagte Mrs.   Crommelynck, Hendrick werde mich in die Stadt fahren, damit ich die Dokumente dort unterzeichnen könne. Ayrs nörgelte, wir verlören einen ganzen Arbeitstag, aber wenn er nichts zu nörgeln hat, ist er nicht glücklich.
    Hendrick und ich brachen heute morgen in aller Frühe auf; dieselbe Strecke, auf der ich vor einem ½ Sommer mit dem Fahrrad gekommen war. Trug eine schmucke Jacke von Ayrs – jetzt, da die wenigen Sachen, die ich aus den Klauen des Imperials retten konnte, langsam aufgetragen sind, wandert vieles aus seiner Garderobe in meine. Das Fahrrad war am hinteren Kotflügel befestigt, damit ich mein Versprechen einlösen und es dem guten Wachtmeister zurückgeben konnte. Unsere in Velin gebundene Beute hatte ich zur Tarnung in Notenpapier gewickelt, das ich, wie jeder auf Zedelghem weiß, immer bei mir trage, und zum Schutz vor neugierigen Blicken in einem fleckigen Schulranzen verstaut, den ich mir unter den Nagel gerissen habe. Hendrick hatte das Verdeck des Cowley geöffnet, und der Fahrtwind machte eine Unterhaltung unmöglich. Wortkarger Bursche, wie es sich für seinen Stand gehört. Eigenartig, aber seit ich Mrs.   Crommelynck decke, macht mich der Kammerdiener des Gatten nervöser als der Gatte selbst. (Jocasta erweist mir weiterhin jede 3. oder 4. Nacht ihre Gunst, allerdings nie, wenn Eva

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